Untersuchungshaft, Haftbefehl - was bedeutet eigentlich „Fluchtgefahr“?

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Ein Haftbefehl – also die Anordnung der Untersuchungshaft gegen einen Beschuldigten – ist möglich, wenn zwei Voraussetzungen erfüllt sind:

Zum einen muss ein sog. „dringender Tatverdacht“ vorliegen. Dieser ist dann gegeben, wenn das Gericht und die Staatsanwaltschaft davon überzeugt sind, dass der Beschuldigte wegen der Straftat letztlich verurteilt wird; also wenn die Beweislage für den Beschuldigten schlecht ist.

Zum zweiten muss ein sog. „Haftgrund“ vorliegen. Das Gesetz enthält 3 Haftgründe: Wiederholungsgefahr, Verdunkelungsgefahr und Fluchtgefahr – hierbei wird die „Fluchtgefahr“ in der Praxis am häufigsten bemüht, um die Untersuchungshaft anzuordnen. In dem Haftbefehl findet sich dann häufig der Satz „Schon aufgrund der hohen Straferwartung ist ein derart hoher Fluchtanreiz gegeben, der die Annahme nahe legt, dass sich der Beschuldigte dem Verfahren durch Flucht entziehen wird. Fluchtgefahr ist somit gegeben“. Eine weitere Begründung gibt es zumeist nicht.

Nun ist es so, dass Haftgerichte mit diesem Begriff sehr großzügig umgehen. Zudem wird die „Fluchtgefahr“ nicht selten dazu benutzt, um den Beschuldigten zu einen frühen Geständnis zu bewegen – nach dem Motto: „Wenn Sie die Tat jetzt gestehen, lassen wir Sie gehen“ (im Juristenlatein nennt man so etwas einen „apokryphen Haftgrund“, also wenn ein Haftgrund nur vorgeschoben wird, um einen Beschuldigten zu einem frühen Geständnis zu drängen).

So habe ich mich selbst schon des Öfteren gewundert (und auch geärgert), wenn bei hier fest – sozial, beruflich, wirtschaftlich – verwurzelten Personen vorschnell die Fluchtgefahr angenommen wird; ohne dass die gesetzlichen Voraussetzungen beachtet werden. Deshalb ist eines wichtig: wenn ein Beschuldigter sich in Untersuchungshaft befindet und der Haftbefehl mit einer „Fluchtgefahr“ begründet wird, sollte immer zunächst genau geprüft werden, ob denn tatsächlich die Voraussetzungen vorliegen. Und man ist überrascht, wie oft dies nicht der Fall ist.

I. Wann liegt „Fluchtgefahr“ tatsächlich vor?

Fluchtgefahr ist nach der Rechtsprechung dann gegeben, wenn die gebotene umfassende Abwägung aller für und gegen die Annahme der Gefahr einer Flucht sprechenden Überlegungen ergibt, dass eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich dem Verfahren entziehen, als für die Erwartung, er werde sich dem Verfahren stellen. Hierbei darf die Fluchtgefahr nur aus bestimmten Tatsachen hergeleitet werden. Bloße Mutmaßungen genügen nicht (OLG Karlsruhe, StV 2001, 118, 119; Baujong, in: KK-StPO § 112 Rn. 12; Herrmann, Untersuchungshaft, Rn. 684f.).

Für eine Fluchtgefahr sprechen in der Regel Verhaltensweisen, die mit einem geordneten und geregelten Leben nach allgemeiner Vorstellung nicht in Einklang zu bringen sind. Indizien hierfür sind beispielsweise das Fehlen sozialer Bindungen (Familie, Partnerschaft), das Fehlen einer festen Arbeitsstelle, ein auffällig häufiger Wohnungswechsel, die Verwendung eines falschen Namens (sog. Alias-Identität) oder eine bereits früher einmal erfolgte Flucht (vgl.: Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, Rn. 1700 m.w.N.).

Gegen eine Fluchtgefahr sprechen hingegen entsprechend gegenteilige Indizien, beispielsweise eine gefestigte familiäre Bindung im Inland, ein fester und angemeldeter Wohnsitz, eine feste und tragfähige Partnerschaft und insbesondere eine feste berufliche Bindung (zu letzterem ausdrücklich; OLG Hamm, StV 2003, 509: „feste Arbeitsstelle ist Indiz gegen Fluchtgefahr“; Burhoff, Handbuch für das strafrechtliche Ermittlungsverfahren, Rn. 1700 m.w.N.; vgl. auch: OLG Hamm StV 2003, 509 m.w.N.; bzw: OLG Frankfurt/Main StV 2000, 151: „Aufbau einer beruflichen Existenz spricht gegen Fluchtgefahr“).

Insgesamt ist der Haftgrund der Fluchtgefahr daher gegeben, wenn aufgrund bestimmter Tatsachen (vgl. §§ 112 Abs.2 S. 1, 112a Abs. 1 S.1 StPO) die Annahme begründet ist, der Beschuldigte werde sich dem Verfahren entziehen. Die Vermutung muss hierbei auf einer Tatsachengrundlage gestützt werden; das Vorliegen der Voraussetzungen ist hierbei objektiv zu beurteilen. Keine hinreichende Tatsachengrundlage bilden subjektive Vermutungen und Befürchtungen eines Richters, etwa aufgrund bestimmter Vorerfahrungen oder Ähnliches (vgl. Graf, in: KK-StPO, § 112, Rn. 9, 16).

Bei der Beurteilung der Fluchtgefahr ist insbesondere auch eine bloß schematische Beurteilung zu vermeiden, vielmehr muss die Fluchtgefahr den konkreten Umständen des Einzelfalles entnommen werden (vgl. Graf, in: KK-StPO, § 112, Rn. 16 m.w.N.). Bei der Beurteilung sind die auf eine Flucht hindeutenden Umstände gegenüber denjenigen abzuwägen, welche einem Fluchtanreiz entgegenstehen (grundlegend: OLG Köln, StV 1995, 475 m.w.N.). Hierbei kann der Fluchtverdacht nicht schon dann bejaht werden, wenn der Beschuldigte über eine entsprechende Mittel bzw. die intellektuellen Ressourcen verfügt, hiervon Gebrauch zu machen; vielmehr ist zu prüfen, ob der Beschuldigte – eine aus seiner Sicht – voraussichtlich von einer solchen Möglichkeit auch Gebrauch machen wird (vgl. OLG Köln, NJW 1959, 544).

Im Rahmen der sodann zu treffenden Prognoseentscheidung ist auch zu berücksichtigen, ob die zu erwartende Rechtsfolge einen entsprechenden Fluchtanreiz begründet. Hierbei kann die Erwartung einer besonders hohen Strafe indes nicht alleine die Fluchtgefahr begründen, allenfalls in Verbindung mit anderen Umständen (OLG Hamm NStZ-RR 2000, 188 = StV 2001, 15 mit zustimmenden Anmerkungen Deckers; ständige Rechtsprechung der Oberlandesgerichtes, vgl. nur: OLG Köln StV 2006, 313; LG München StV 2005, 38 jeweils m.w.N.).

Wichtig: alleine die vermeintlich hohe Straferwartung kann die Fluchtgefahr gerade nicht begründen (vgl. nur: Burhoff, in: StraFo 2006, 51, 53 m.w.M.; zudem stetige Rechtsprechung; exemplarisch: OLG Köln StV 2006, 313; LG München StV 2005, 38 jeweils m.w.N.).

In diesem Zusammenhang soll auch darauf hingewiesen werden, dass innerhalb der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte noch nicht abschließend geklärt ist, was eigentlich eine hohe Straferwartung bzw. eine empfindliche Freiheitsstrafe überhaupt ist, wobei aber offenbar Einigkeit dahingehend besteht, dass bei einer „empfindlichen Freiheitsstrafe“ (= hohen Freiheitsstrafe) das zu erwartende Strafmaß jedenfalls sicher über drei Jahren liegen muss (vgl.: OLG Hamm StV 1999, 37; 1999, 215; 2003, 170; Beschluss vom 08.12.2006 – 3 Ws 638/06 „bei 3 Jahren und 10 Monaten“; noch weiter: LG Zweibrücken StV 1997, 534 „noch nicht bei 4 Jahren“; OLG Köln StV 2003, 510 „nicht bei 3 Jahren und 6 Monaten Straferwartung“; OLG Brandenburg StV 2002, 147 „nicht bei vier Jahren und drohendem Bewährungswiderruf von 2 Jahren“; darüber hinausgehend sogar – soweit ersichtlich aber Einzelfall - OLG Köln StV 1993, 371 „nicht bei 5 Jahren“).

Sofern die Untersuchungshaft also alleine mit der hohen Straferwartung begründet wird, sollte man sich hiermit jedenfalls nicht zufrieden geben. Hier hat man gute Chancen, wenn man sich dazu entscheidet, den Haftbefehl mit einem Rechtsmittel anzugreifen.

Weiterhin gilt: die Anordnung der Untersuchungshaft beschränkt den Bürger in seinem Grundrecht und Menschenrecht auf Freiheit schwer ein; insofern steht die Untersuchungshaft auch stets unter dem Vorbehalt der sog. Verhältnismäßigkeit, §§ 116, 116a StPO. 

Gemäß § 116 Abs. 1 setzt der Richter den Vollzug des Haftbefehls, der lediglich wegen Fluchtgefahr gerechtfertigt ist, außer Vollzug, wenn weniger einschneidende Maßnahmen die Erwartung hinreichend begründen, dass der Zweck der Untersuchungshaft auch durch sie erreicht werden kann.

Hierbei zunächst darauf hinzuweisen, dass bei Fluchtgefahr die Außervollzugsetzung des Haftbefehls vorzunehmen ist (sog. „gebundene Entscheidung“), sobald die Voraussetzungen hierfür – also für die Ausservollzugsetzung – vorliegen. Dem Richter wird insofern kein Ermessensspielraum hinsichtlich einer Außervollzugsetzung eingeräumt, sondern er ist nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verpflichtet Haftverschonung zu bewilligen, wenn der Zweck der Untersuchungshaft schon durch weniger einschneidende Beschränkungen erreicht werden kann (vgl. nur BVerfGE 19, 342, 352 m.w.N.).

Der Zweck der Untersuchungshaft liegt hierbei in der Sicherung eines ordnungsgemäßen Ablaufes des Verfahrens, also der Durchführung der Hauptverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten. Vorangestellt werden soll auch hier, dass auch bei einer „erheblichen Straferwartung“ (sofern man hier eine solche entgegen den vorstehenden Ausführungen annehmen sollte) soziale Bindungen des Beschuldigten oder sonstige den fluchtanreizmindernde Umstände so stark sein können, dass nach § 116 StPO verfahren werden kann (vgl. Graf, in KK-StPO, § 116, Rn. 10).

II. Fazit

Wird ein Haftbefehl gegen eine Person erlassen, ist dieser immer darauf zu überprüfen, ob hier denn auch die vorstehenden Anforderungen beachtet worden sind. Wie schon angesprochen ist dies häufig nicht der Fall, so das der Haftbefehl nicht selten auf einer falschen Annahme basiert und somit durch Rechtsmittel (Haftprüfung, Haftbeschwerde, weitere Beschwerde) erfolgreich angegriffen werden kann. In diesem Fall wird der Haftbefehl aufgehoben und der Beschuldigte frei gelassen bzw. der Haftbefehl bis zur Verhandlung außer Vollzug gesetzt.

Der Erfolg des Rechtsmittels ist natürlich maßgeblich von der Kompetenz des Rechtsanwaltes, der Überzeugungskraft und dem Engagement abhängig. Gerade aus diesem Grunde entscheiden sich viele Angehörige dazu, unsere Kanzlei mit der Vertretung ihres Verwandten bzw. Verlobten oder Ehemann zu beauftragen.

Bei Mandatsanfragen erreichen Sie mich – zunächst auch unverbindlich und kostenfrei – unter der angegebenen Telefonnummer; außerhalb der Geschäftszeiten bzw. an Wochenenden / Feiertagen per E-Mail oder über die auf meiner Homepage angegebene Notfallnummer.


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