Was man aus der Ukraine-Krise für Verhandlungen ableiten kann

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Es mag auf den ersten Blick etwas empathielos erscheinen, sich die aktuelle Situation in der Ukraine unter verhandlungsstrategischen Aspekten anzusehen. Trotzdem macht dies durchaus Sinn, denn die Kommunikation in Krisen und die Dynamik von Konflikten folgt bestimmten Mustern, auf die man Einfluss nehmen kann. Und genau diese Fragen habe ich mir wie viele andere auch gestellt: Was hätte man tun können? Und was kann man jetzt tun? Mit dem folgenden Beitrag will ich hierzu ein paar Denkanstöße geben:

Ein altes Problem: Ein übermächtiger Angreifer und ein unterlegener Verteidiger

Unabhängig von geopolitischen Überlegungen offenbart sich in der Ukraine-Krise ein geradezu klassisches Problem: Wie geht man mit einem überlegenen Gegner um? Die Antwort lautet: Man bereitet sich auf einen möglichen Konflikt vor und sucht sich mögliche Verbündete. Je mehr und je bessere Beziehungen man zu verschiedenen Parteien unterhält, umso wahrscheinlicher ist eine Unterstützung von außen bei einem Konflikt. Hilfreich ist insoweit oftmals die Frage danach, wer gleichgerichtete Interessen hat und zu wem man somit eine möglichst vertrauensvolle Beziehung aufbauen sollte. Im Fall einer drohenden Konfrontation mit einem überlegenen Gegner stellt sich also die Frage, wer ebenfalls ein Interesse daran hat, im Konfliktfall zu vermitteln oder einen Konflikt zu deeskalieren. Häufig genug gibt es entsprechende Personen auch im Lager des übermächtigen Gegners. Wie sich aktuell in der Ukraine-Krise zeigt, gibt es in der russischen Zivilgesellschaft von verschiedenen Personengruppen Bemühungen um eine Deeskalation. Diese Personengruppen müssen unterstützt werden. Auf diese Weise kann in Russland die Diskussion über die Möglichkeiten der Deeskalation der Krise befördert werden.

Was soll erreicht werden? - Was soll vermieden werden?

In jedem Konflikt geht es um Interessen, ob sie nun offen kommuniziert werden oder nicht. Aus verhandlungsstrategischer Sicht geht es also immer um die Frage, worum es der anderen Partei eigentlich geht bzw. was die andere Partei nach Möglichkeit vermeiden möchte. Erfahrungsgemäß wird vor der Entscheidung über eine Eskalation eines Konfliktes eine Kosten-Nutzen-Abwägung erfolgen. Wer sich mit einem überlegenen Gegner konfrontiert sieht, wird sich gut überlegen müssen, wie er diese Kosten-Nutzen-Abwägung zu seinen Gunsten verändern kann. Und hier zeigt sich, dass Unterlegenheit durchaus einen strategischen Vorteil bieten kann, wenn sie entsprechend kommuniziert wird. Im Falle einer von außen als ungerechtfertigt wahrgenommenen Aggression werden außenstehende Parteien sich nämlich voraussichtlich mit dem unterlegenen Verteidiger solidarisieren. Aus der Position der Unterlegenheit hinsichtlich tatsächlicher Ressourcen wird so eine Position der moralischen Überlegenheit. Mit anderen Worten: die Eskalation eines Konfliktes kann mit einem erheblichen Reputationsverlust und Isolation verbunden sein. Ein Effekt, den man auf keinen Fall unterschätzen sollte und der sich auch in der Berichterstattung in der Ukraine-Krise zeigt. Dieser Effekt offenbart auch eine Möglichkeit zur Einflussnahme auf den Konflikt: Solidaritätsbekundungen Außenstehender haben möglicherweise zwar zunächst keinen direkten Einfluss auf den Konflikt. Sie unterstützen aber die Position derjenigen, die im Lager des überlegenen Angreifers das Interesse einer Deeskalation verfolgen.

Das Ringen um die Deutungshoheit des Geschehens

Die vorgenannten Erwägungen führen nahtlos zu einem weiteren Aspekt: In Konflikten geht es oftmals nicht nur um die Streitpunkte in der Sache, sondern auch um die Frage, wie der Konflikt und die Konfliktparteien von außen wahrgenommen werden. Hierauf haben die Konfliktparteien zwar Einfluss. Je mehr Außenstehende sich zu einem Konflikt eine Meinung bilden und diese auch kommunizieren, umso stärker wird die Wahrnehmung des Konflikts und der Konfliktparteien von außen beeinflusst. Diese Wahrnehmung beeinflusst natürlich auch die Erwartungen und Befürchtungen der Konfliktparteien im Hinblick auf den weiteren Verlauf des Konflikts. Und auch insoweit zeigt sich: Kein Gegner ist so überlegen, dass es nicht doch empfindliche Angriffspunkte gibt. Die Beeinflussung der öffentlichen Meinung über die Konfliktparteien und die jeweiligen Verantwortlichen sind insoweit nur ein Aspekt. Ebenso wichtig kann die Beeinflussung der Erwartungen und Befürchtungen der Beteiligten sein. Ein überlegener Gegner geht erfahrungsgemäß von einem leichten Sieg aus. Lässt der erwartete Erfolg auf sich warten oder steigt der Preis für den beabsichtigten Erfolg, verschiebt sich das anfängliche Kosten-Nutzen-Verhältnis und damit auch das Kräfteverhältnis zwischen den Konfliktparteien. Jeder kann sich an eine Situation erinnern, in der es besser gewesen wäre, einen Konflikt nicht auszutragen, weil der Preis des Erfolges letztlich viel zu hoch war oder sich im Nachhinein die Kosten-Nutzen-Abwägung als falsch herausstellte. Aus der Position des unterlegenen Verteidigers empfiehlt es sich daher oftmals, die wahren oder möglichen Kosten eine Eskalation des Konflikts zu verdeutlichen, um den überlegenen Gegner zu einer neuen Bewertung des Kosten-Nutzen-Verhältnisses zu bewegen oder aber um indirekt diejenigen zu unterstützen, die im Lager des überlegenen Gegners stehen und ebenfalls das Interesse an einer Deeskalation verfolgen.

Eingreifen oder vermitteln?

Als Außenstehender muss man eine grundsätzliche Entscheidung treffen, nämlich ob man in einem Konflikt zugunsten eines Beteiligten Partei ergreifen möchte oder ob man als neutraler Vermittler auftreten möchte. Diese Entscheidung hat erhebliche Auswirkungen: Wer Partei ergreift, beteiligt sich am Konflikt und wird nicht mehr als Außenstehender wahrgenommen. Wer als neutraler Vermittler auftreten möchte, muss dies von Anfang an gegenüber allen Beteiligten deutlich machen. Für welche Rolle auch immer man sich entscheidet, sie muss glaubhaft vermittelt werden.

Abschließende Worte: Was man als einzelner tun kann

Es fühlt sich unwirklich an, den eigenen Kindern und uns selbst im Jahr 2022 Krieg in Europa erklären zu müssen. Die geschichtliche Einordnung werden später die Historiker vornehmen müssen. Doch mit der aktuellen Entwicklung müssen wir uns jetzt auseinandersetzen. Ist ein Konflikt so eskaliert, dass Gewalt ausgeübt wird, muss das oberste Ziel darin bestehen, die Gewalt zu beenden. Letztlich wird ohnehin verhandelt werden, denn was man mit Gewalt gewinnt, das kann man auch nur mit Gewalt behalten. In der Zwischenzeit gilt es, Solidarität mit den Menschen zu zeigen, die direkt von dem Konflikt betroffen sind. Die Möglichkeiten sind vielfältig: Konkrete Hilfsangebote werden vielerorts bereits organisiert. Auch haben wir das Glück, unsere Meinung auf Demonstrationen und im Internet frei äußern zu können, um Druck auf die Politik auszuüben.

Ich schließe mit der Hoffnung, dass sich schnell die Erkenntnis durchsetzt, dass Verhandlungen immer der bessere Weg zu einer Konfliktlösung sind.

Andreas Kempcke

Rechtsanwalt


Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

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