Wirecard AG: Zwei Sammelklagen in den USA

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1. Seit Bekanntwerden der Unregelmäßigkeiten bei WireCard AG sind derzeit zwei als Sammelklagen konzipierte Verfahren beim Bundesbezirksgericht für den Östlichen Bezirk Pennsylvanias unter den Aktenzeichen 20-cv-3326 und 20-cv-5017 anhängig. Beide Verfahren wurden durch Beschluss vom 27. Oktober 2020 durch Parteivereinbarung verbunden. Als Beklagte sind jeweils Wirecard AG, die Herren Markus B., Jan M., Burkhard L., Alexander K., Wulf M., Frau S. sowie die Ernst & Young GmbH  benannt.

2. In beiden Verfahren behaupten die Kläger im Wesentlichen, dass die Beklagten zwischen dem 17. August 2015 und dem 25. Mai 2020 u.a. falsche oder irreführende Angaben zur Finanzlage des Unternehmens wie Kapitalausstattung, Barmittelverfügbarkeit, Gewinnausweis und Risikobewertungen veröffentlicht, genehmigt und/oder attestiert hätten. Erst am 18. Juni 2020 hätten die Beklagten bekanntgegeben, dass eine Sichteinlage in Höhe von 1,9 Mrd. EUR nicht mehr dem Vermögensbereich der Gesellschaft zugerechnet und als Vermögensposition ausgewiesen werden könne, obwohl ihnen dies bereits seit 2015 hätte bekannt sein müssen. Als Folge sei der Wert der von den Klägern in diesem Zeitraum erworbenen Hinterlegungsscheine (American Depositary Receipts) innerhalb von 48 Stunden nach Bekanntgabe um 75% und in der Folge noch weiter gefallen.

3. Die Klageschrift im Verfahren 20-cv-5017 beinhaltet eine detaillierte Nachzeichnung der Bilanz- und Finanzierungshistorie der Gesellschaft und ihrer Verantwortlichen und beruht auf drei Anspruchsgrundlagen, wobei sich zwei gegen die Gesellschaft und beklagten Verantwortlichen richten und eine ausschließlich gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young. Die Kläger im Verfahren 20-cv-3362 machen zwei Ansprüche aus wertpapierrechtlichen Vorschriften geltend, wobei sich einer auf die persönlich haftenden Beklagten beschränkt. Das Bundesbezirksgericht für den Östlichen Bezirk Pennsylvanias hat den Klägern am 27. Oktober im Rahmen der Verfahrenskonsolidierung] aufgegeben, die Klageschrift bis zum 22. Dezember 2020 zu ergänzen, so dass sich sowohl die Anspruchsgrundlagen wie auch der Tatsachenvortrag noch einmal ändern können.

 4. Die Anhängigkeit sowohl des Konsolidierungsverfahren 20-cv-3362 als auch des aufgegangenen Verfahrens 20-cv-5017 fällt mit dem 7. Juli 2020 [20-cr-3362] bzw. 2. August 2020 [20-cv-5017] nach Stellung des Insolvenzantrages am 25. Juni 2020. Der Vollstreckungsschutz nach 11 U..S.C.. §362(a)(1) verbietet bereits die Anhängigmachung von Ansprüchen gegen Vermögensgegenstände der   Insolvenzmasse. Zu prüfen verbliebe, ob weitere Verfahrensschritte auch dem deutschen Vollstreckungsschutz standhalten und ob sich die Kläger rechtsmissbräuchlich verhalten, ihn zu umgehen. Hinzukommt, dass die Kläger am 6. November 2020 beantragt haben, die prozessrechtliche Hemmung der parteilichen Beweissicherung (discovery) im Wege des Ausforschungsbeweisen aufzuheben. Nach den Regeln des Private Securities Litigation Reform Acts of 1995 – dort 15 U.S.C. §78u-4(b)(3)(B) – dürfen Sammelkläger in Verfahren wegen Wertpapierbetruges solange keine parteiliche Beweissicherung betreiben, solange es den Beklagten prozessual noch möglich ist, frühe Klageabweisung wegen Unschlüssigkeit zu beantragen, um Verdachtsklagen zu Ausforschungszwecken zu blockieren. In allen anderen Zivilverfahren ist dies grundsätzlich unmittelbar ab Zustellung zulässig.

5. Die Kläger begründen ihren Antrag auf Aufhebung der Beweissicherungshemmung damit, dass die beklagte Wirecard-Tochtergesellschaft jüngst verkauft worden sei und die an der Transaktion Beteiligten nicht dem Beweisvernichtungsver- und –bewahrungsgebot nach 15 U.S.C. §78u-4(b)(3)(C) verpflichtet seien, da sie nicht Partei im Verfahren 20-cr-3362 seien.

Sofern das Gericht dem Antrag zustimmt, erlauben die U.S.-Verfahrensregeln die parteiliche Beweissicherung auch im Ausland, solange ein international vollstreckbarer Beweiserhebungsbeschluss erwirkt werden kann. Inwieweit eine Beweissicherung im Verfahren 20-cv-3362 auf die bisherige und zukünftige Abwicklung des deutschen Insolvenzverfahrens Einfluss nehmen wird, ist noch nicht abzusehen und eine weitere Verfahrensbeobachtung geboten ((Bericht des Kollegen Rechtsanwalt Helge Naber, als Rechtsanwalt in Bremen und als Attorney at Law in Montana, USA, zugelassen).

Fazit: In einer amerikanischen Sammelklage wird nicht nur über die Ansprüche der Kläger entschieden, sondern die Rechtskraft erstreckt sich auch auf jene Personen, die in gleicher Weise wie die Kläger von dem streitgegenständlichen Sachverhalt betroffen sind – unabhängig davon, ob sie selbst klagten. In gleicher Weise Betroffene sollten sich insoweit anwaltlich beraten lassen, unabhängig davon, ob sie rechtlich Beteiligte von Insolvenzverfahren in dem Komplex Wirecard AG oder von anderen Verfahren sind.


Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

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