Zwischen Wahrheitspflicht und Wahrnehmungsfehlern: Wie verlässlich sind Zeugenaussagen?

  • 5 Minuten Lesezeit

von Rechtsanwalt Dr. Marc Laukemann*


Einleitung:

„Durch zweier Zeugen Mund wird allerwegs die Wahrheit kund.“ Wusste schon Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832).

Knapp 200 Jahre später stellt sich für Anwälte, Richter und Psychologen allerdings immer wieder die Frage, wie verlässlich denn Zeugenaussagen tatsächlich sind.

Eine neuere Studie, die in Zusammenarbeit mit der ICC Task Force und der Universität Warwick durchgeführt wurde, hat wissenschaftliche Erkenntnisse zur Zeugenerinnerung zusammengetragen und ihre Bedeutung für das Schiedsverfahren untersucht.

In diesem Artikel werden die wichtigsten Erkenntnisse der Studie vorgestellt und Maßnahmen diskutiert, die ergriffen werden können, um Verfälschungen der Zeugenerinnerung zu vermeiden.


Wie verlässlich ist die menschliche Erinnerung? 

Flüchtig und fehleranfällig: Die Studie zeigt, dass das menschliche Gedächtnis oft fehleranfällig ist und nicht wie eine Videokamera funktioniert, die Ereignisse exakt aufzeichnet. Sie ähnelt eher einem Word-Dokument, in dem Änderungen vorgenommen werden können, ohne dass später erkennbar ist, welche Inhalte von Anfang an vorhanden waren und welche hinzugefügt oder verändert wurden. Dieses Verständnis des menschlichen Gedächtnisses ist wichtig, um die Fehleranfälligkeit von Zeugenaussagen in Schiedsverfahren zu erkennen.


Faktoren, die das Erinnerungsvermögen von Zeugen beeinflussen: 

Die Studie zeigt auch, dass die Erinnerung von Zeugen durch verschiedene Einflussfaktoren verändert werden kann. Zum einen können schriftliche Zeugenaussagen die Erinnerung an das Ereignis verzerren.

Durch den Prozess des "biased retelling" können falsche Erinnerungen entstehen, die mit der ursprünglichen Erinnerung wenig zu tun haben. Andererseits können auch gezielte Fragen und Gespräche mit anderen Zeugen die Erinnerung beeinflussen und zu Veränderungen führen.

Der Kontakt eines Zeugen mit anderen Informationsquellen zum Beweisthema kann also die Erinnerung verändern. Diese Veränderung kann in jede Richtung gehen. Falsche Erinnerungen können „korrigiert“ werden, richtige Erinnerungen können verfälscht werden. Es können auch völlig neue Erinnerungen entstehen, die vorher nicht vorhanden waren.

  • Vorsicht: Eine gute, gut gemeinte und für den Anwalt relevante Sachverhaltsrekonstruktion kann zu der beschriebenen falschen Erinnerung („memory conformity“) führen.
  • Bei der Ladung von Zeugen ist besonders darauf zu achten, ob das Gericht eine Vorbereitung des Zeugen erwartet (vgl. § 378 ZPO). Darf sich ein Zeuge nicht durch schriftliche Unterlagen vorbereiten, kann die Glaubwürdigkeit des Zeugen erheblich beeinträchtigt werden, wenn er sich dennoch vorbereitet hat. Eine eigenständige Erinnerung kann dann nicht sicher festgestellt werden


Sonderproblem: Darf ein Anwalt eine schriftliche Zeugenaussage vorformulieren?

Im Zivilprozess gilt die prozessuale Wahrheitspflicht. Dies bedeutet, dass keine Partei wider besseren Wissens unrichtig vortragen oder bestreiten darf. Wer dagegen verstößt, verletzt nicht nur diesen Grundsatz, sondern macht sich eines versuchten oder vollendeten Prozessbetrugs nach § 263 StGB strafbar, je nachdem, ob die Lüge erfolgreich war. Die prozessuale Pflicht, sich wahrheitsgemäß zu erklären, besteht nicht nur gegenüber dem Prozessgegner, sondern auch gegenüber dem Gericht und bedeutet auch, dass man die Zeugen weder direkt noch mittelbar nicht in dem Sinne beeinflussen darf, der Wahrheit zu wieder Aussagen zu tätigen.

Nach den Ergebnissen der Studie besteht ein erhebliches Risiko, dass Zeugen Ungenauigkeiten und Fehler in einer von Parteianwälten erstellten schriftlichen Zeugenaussage nicht erkennen. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass der unrichtige Inhalt der schriftlichen Zeugenaussage später auch im Gedächtnis haften bleibt.

Unabhängig von der prozessualen Problematik einer nicht aufgedeckten Urheberschaft sollte der Anwalt die Zeugenaussage nicht vorformulieren.

Maßnahmen zur Vermeidung von Verfälschungen des Zeugengedächtnisses: 

Um Verfälschungen der Zeugenerinnerung zu vermeiden, werden in der Studie verschiedene Maßnahmen vorgeschlagen. Dazu gehört zum Beispiel das Anfertigen eigener Notizen durch die Zeugen selbst, um ihre Erinnerungen möglichst unbeeinflusst festzuhalten. Auch das Vermeiden von suggestiven Fragen und die Einflussnahme durch andere Informationsquellen sind wichtige Schritte, um die Verlässlichkeit von Zeugenaussagen zu gewährleisten.

  • Es sollte vermieden werden, dass die Prozessbevollmächtigten ihr Verständnis der Dinge wiedergeben, um dieses Verständnis dann bestätigen oder falsifizieren zu lassen.


Bewertung: Die Studie zeigt, dass die Erinnerung von Zeugen im Schiedsverfahren fehleranfällig ist und verschiedene Einflussfaktoren zu Verfälschungen führen können. Die Verlesung von Dokumenten oder die Befragung von Zeugen führt zu einer aussagepsychologischen Eintrübung der Beweisquelle.

Um die Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen zu erhöhen, sollten Maßnahmen ergriffen werden, um die Erinnerung möglichst unbeeinflusst festzuhalten.

Dazu gehören das Anfertigen eigener Notizen, das Vermeiden suggestiver Fragen und die Einflussnahme durch andere Informationsquellen. Diese Maßnahmen können die Authentizität und Überzeugungskraft der Zeugenaussagen erhöhen.


Handlungsempfehlungen:

  1. Zeugen sollten im Idealfall unbeeinflusst aussagen.
  2. Suggestive Fragen sollten vermieden werden, um falsche Erinnerungen zu vermeiden.
  3. Der Einfluss anderer Informationsquellen auf die Erinnerung des Zeugen sollte minimiert werden.
  4. Jede Vorbereitung von Zeugen birgt die Gefahr, als Beeinflussung interpretiert zu werden. Die Beweisquelle ist dann getrübt. Dem kann durch eine saubere Durchführung und Protokollierung der Zeugenvernehmung entgegengewirkt werden.
  5. Grenzen setzt die Wahrheitspflicht.
  6. Es ist verboten, den Inhalt der Aussage eines Mandanten oder Zeugen zu manipulieren. Ein Rechtsanwalt, der das Gespräch mit dem Zeugen protokolliert hat, kann gegebenenfalls als Zeuge zu der Frage gehört werden, ob eine Manipulation stattgefunden hat.
  7. Die Wahrheitspflicht des Rechtsanwalts verbietet eine selektive und um belastende Informationen bereinigte Protokollierung - Zeugen sollten eigene Notizen anfertigen, um ihre Erinnerungen möglichst unbeeinflusst festzuhalten.


Fazit: Die Studie zur Zeugenerinnerung in Schiedsverfahren zeigt, dass das menschliche Erinnerungsvermögen fehleranfällig ist und verschiedene Einflussfaktoren zu Verfälschungen führen können. Durch geeignete Maßnahmen, wie das Anfertigen eigener Notizen, das Vermeiden von Suggestivfragen sowie die Dokumentation von Gesprächen mit Zeugen im Vorfeld eines Prozesses, kann die Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen verbessert werden. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Juristen und Psychologen kann dazu beitragen, das Verständnis des Erinnerungsvermögens von Zeugen zu vertiefen und entsprechende Handlungsempfehlungen zu entwickeln.


* Rechtsanwalt Dr. Marc Laukemann ist Gründungspartner von LFR Wirtschaftsanwälte München, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht sowie für gewerblichen Rechtsschutz, zertifizierter Wirtschaftsmediator (IHK) und systemischer Business Coach (IHK). 


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Foto(s): https://unsplash.com/de/fotos/NeRKgBUUDjM

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