02.06.2022: Neue Wende im Dieselskandal durch den Generalwalt am Europäischen Gerichtshof

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Der Bundesgerichtshof hat am 25.05.2020 (VI ZR 252/19) seine grundlegende Entscheidung zum Motor EA189 der Volkswagen AG verkündet und Ansprüche wegen der in diesem Motor von der VW AG verbauten und nach EU-Recht unzulässigen Abschalteinrichtung aufgrund einer vorsätzlich sittenwidrigen Schädigung der Erwerber angenommen.

Im Anschluss an diese Grundsatzentscheidung scheiterten in der Folge allerdings zahlreiche Klagen gegen die jeweiligen Hersteller (VW AG, Audi AG, Daimler AG u.a.) in Bezug auf Fahrzeuge mit anderen Motoren, in denen andere Abschalteinrichtungen verbaut waren. Im Fokus der Rechtsstreitigkeiten standen dabei insbesondere so genannte „Thermofenster“, die in zahlreichen Fahrzeugen der Schadstoffklasse EU5 und EU6 verbaut sind. Diesen Umstand bestreiten die Hersteller in den anhängigen Verfahren oft nicht einmal.

Durch in der Motorsteuerung auch noch lange nach dem Bekanntwerden des Dieselskandals im Jahr 2015 verbaute „Thermofenstern“ erreichen es die Hersteller, dass die optimierte Abgasrückführung, die für Einhaltung der vorgeschriebenen NOx-Grenzwerte auf dem vorkonditionierten Rollenprüfstand (NEFZ) und damit für die Typengenehmigung des Fahrzeugs sorgt, in weiten Temperaturbereichen des Realbetriebs auf der Straße ausgeschalten wird.  Die Fahrzeuge stoßen damit im Realbetrieb – entgegen den Emissionsangaben, denen der Erwerber vertraut hat – zu Lasten der Umwelt häufig ein Vielfaches der vorgeschriebenen Grenzwerte aus.

Der Europäische Gerichtshof hat diese Thermofenster bereits im Urteil vom 17.12.2020 C- 693/18 mit deutlichen Worten für grundsätzlich rechtswidrig gehalten.

Dies hatte in Deutschland zunächst allerdings kaum Konsequenzen für die Hersteller.

Denn die deutsche Justiz ist bislang in vielen Entscheidungen (z.B. BGH, Urteil vom 29.09.2021 – VII ZR 126/21 -) der Strategie der Herstellerseite gefolgt und hat die hierauf gestützten Klagen sehr oft wegen (häufig für den Erwerber schwierig zu beweisenden) fehlenden Vorsatzes und fehlender verwerflicher Gesinnung der Hersteller abgewiesen.

Bloße Fahrlässigkeit hat die deutsche Justiz bislang nicht ausreichen lassen und Ansprüche der Erwerber nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 2, Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2, Art. 5 Abs. 1 der Verordnung EG Nr. 715/ 2007 als Schutzgesetz regelmäßig abgewiesen. Allein der Verstoß der Hersteller gegen die Vorschriften der EG-Verordnung Nr. 715/2007, die solche Thermofenster verbietet, könne keinen Anspruch gegen die Hersteller begründen, weil diese Vorschriften in der EG-Verordnung angeblich keine Individualinteressen des Erwerbers schützten.

Diese bislang in der deutschen Justiz fast einhellige Auffassung, mit der die Abweisung entsprechender Klagen gegen die Hersteller oft begründet wurde, war auch bislang schon bemerkenswert, denn der Schutz von (zumindest auch) Individualinteressen ergibt sich durchaus deutlich bereits aus dem Erwägungsgrund Nr. 17 als den Gesetzgebungsmotiven zur Verordnung (EG) Nr. 715/2007, wo es  heißt:

Ein einheitliches Verfahren für die Messung des Kraftstoffverbrauchs und der Kohledioxidemissionen ist notwendig, um zu verhindern, dass zwischen den Mitgliedstaaten technische Handelshemmnisse entstehen. Ein solches Verfahren ist auch notwendig, um zu gewährleisten, dass die Verbraucher und Anwender objektive und genaue Informationen erhalten…“

Gemäß der aktuellen Pressemitteilung Nr. 95/22 des Europäischen Gerichtshofs im Verfahren    C-100/21 vom 02.06.2022 hat der Generalwalt am Europäischen Gerichtshof  auf eine Vorlagefrage des Landgerichts Ravensburg dem EuGH nun empfohlen, diese dahingehend zu beantworten, dass die Unionsregelung über die EG-Typengenehmigung sehr wohl auch die Interessen eines individuellen Erwerbers eines Fahrzeugs schützt, insbesondere das Interesse, kein Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung zu erwerben, und das Unionsrecht die Mitgliedsstaaten verpflichtet, vorzusehen, dass der Erwerber eines Fahrzeugs auch einen Ersatzanspruch gegen den Fahrzeughersteller hat. Hierfür müssen die Mitgliedstaaten wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen verhängen.

Die Schlussanträge des Generalanwalts am Europäischen Gerichtshof, dem der EuGH in der weit überwiegenden Zahl der Fälle folgt, könnten eine einschneidende Wende in der bislang sehr herstellerfreundlichen deutschen Justiz zur Folge haben.

Denn danach ist der Nachweis von Vorsatz und verwerflicher Gesinnung des Herstellers, woran die meisten Klagen bislang gescheitert sind, für den Erwerber gerade nicht (mehr) erforderlich.



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