Zur Frage des Einkommensvergleichs bei der Verweisung in der Berufsunfähigkeitsversicherung

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Im Rahmen der Berufsunfähigkeitsversicherung kommt es immer wieder zu Problemen, wenn in dem Versicherungsvertrag eine sog. Verweisungsklausel enthalten ist, die inhaltlich nichts anderes sagt, als dass der berufsunfähig gewordene Versicherungsnehmer auf einen anderen Beruf verwiesen werden kann, mit der Folge, dass der Versicherer die BU-Rente nicht oder nicht weiter zu zahlen braucht. Infrage kommen natürlich nur solche Berufe, die der bisherigen Lebensstellung des Versicherten entsprechen. Dazu sind die Qualifikation des Versicherten, die konkreten Ausgestaltungen des bisherigen und des Verweisungsberufs (z. B. Arbeitszeiten), die sozialen Wertschätzungen des bisherigen und des Verweisungsberufes und natürlich das Einkommen zu berücksichtigen und zu vergleichen.

Dieser Vergleich bereitet immer wieder Probleme. Gerade wenn es um Einschätzungen geht, die nur einem Bauchgefühl folgen können, Stichworte: bisherige Lebensstellung, soziale Wertschätzung, unterwertige oder gleichwertige Beschäftigung in der Verweisungstätigkeit? Ist der selbständige Beruf eines Hufschmieds mit minderem Einkommen in der sozialen Wertschätzung höher angesiedelt als der eines Angestellten einer Biogasanlage bzw. ist die angestellte Tätigkeit unterwertig gegenüber der selbständigen Tätigkeit? Hierzu wurde weiter unten bereits ein Urteil des Bundesgerichtshofes besprochen.

Da scheint es doch leichter, wenn man sich an Fakten und Zahlen halten kann. Und hier kommt das Einkommen wieder ins Spiel. Trotzdem gestaltet sich die Beurteilung der Vergleichbarkeit der Verweisungstätigkeit mit der beruflichen Ausgangstätigkeit offenbar dann doch nicht einfacher.

Sachverhalt:

Folgender, vereinfacht dargestellter Fall beschäftigte die Gerichte über drei Instanzen und fand auch vor dem BGH kein Ende (BGH, Urt. vom 26.06.2019 – IV ZR 19/18):

Der Versicherungsnehmer (VN) war seit 1998 im Wesentlichen als Dachdeckerhelfer tätig. Arbeitsvertraglich vereinbart waren 10 Euro pro Stunde. Sein letztes Einkommen im Jahr 2007 betrug 15.523 Euro brutto. In den letzten drei Jahren vor Eintritt der BU erhielt er im Durchschnitt 12.340 Euro brutto pro Jahr.

Im Jahr 2008 wurde der VN berufsunfähig. Mit Eintritt der BU erhielt er die vereinbarte BU-Rente.

Sodann schulte der VN zu einem Kaufmann im Großhandel um und nahm eine solche Tätigkeit schließlich ab April 2012 zu einem Monatslohn von 1.000 Euro brutto bei 28 Wochenstunden, mithin zu 12.000 brutto im Jahr, auf.

Der BU-Versicherer nahm dies zum Anlass, den VN auf die Tätigkeit des Kaufmannes im Großhandel zu verweisen und stellte die Rentenzahlungen ein. Denn nach den Versicherungsbedingungen war die Verweisung auf einen der bisherigen Lebensstellung des VN entsprechenden Beruf grundsätzlich möglich und nur dann ausgeschlossen, wenn das jährliche Einkommen im neuen Beruf 20 % oder mehr unter dem Einkommen im bisherigen Beruf läge. Vor Eintritt der BU seien die Lebensverhältnisse des VN durch ein Durchschnittseinkommen in Höhe von 12.340 Euro pro Jahr bestimmt gewesen. Nun verdiene er 12.000 Euro pro Jahr.

Gerichtsweg

Der VN klagte mit dem Argument, sein letztes Jahreseinkommen vor Eintritt der BU habe bei 15.523 Euro gelegen. Nun verdiene er mehr als 20 % weniger.

In der ersten Instanz scheiterte der VN.

Vor dem Berufungsgericht hatte er Erfolg:

Das Berufungsgericht war der Auffassung, dass die Leistungspflicht des VR nicht dadurch entfallen sei, weil der VN nun den gelernten Beruf als Kaufmann im Großhandel ausübe. Diese Tätigkeit entspräche nicht der bisherigen Lebensstellung des VN (Dachdeckergehilfe). Allein auf das Durchschnittseinkommen der letzten drei Jahre vor Eintritt der Berufsunfähigkeit abzustellen, werde der Feststellung der vormaligen Lebensstellung nicht gerecht.

Vielmehr seien die vormaligen Lebensverhältnisse des VN im Mindestmaß maßgeblich durch die Bedingungen des seit 1997 jeweils durch Rechtsverordnung für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages zur Regelung der Mindestlöhne im Baugewerbe (Ost) geprägt gewesen. Und dieser würde kontinuierlich angepasst werden. Wäre der VN nicht berufsunfähig geworden, hätte er im Jahr 2012 als Dachdeckergehilfe unter Heranziehung des Bau-Mindestlohns (Ost) 1.733,33 brutto pro Monat verdient. Im Verhältnis dazu sei sein jetziger Verdienst von 1.000 Euro pro Monat zur Wahrung der vormaligen Lebensstellung nicht ausreichend.

Auch dem Argument des VR, der VN würde als Kaufmann, so er Vollzeit arbeiten würde, immerhin 1.428,27 Euro brutto pro Jahr verdienen, was immerhin weniger als 20 % Unterschieds zu 1.733,33 Euro brutto entspräche, erteilte das Berufungsgericht eine Absage. Denn, u. a., wegen der Fortschreibung des Tarifs im Baugewerbe würde für das Jahr 2014 das Einkommen als Kaufmann im Verhältnis wieder mehr als 20 % darunter liegen.

Der VR ging in Revision.

Der Bundesgerichtsweg verwies die Sache an das Berufungsgericht zurück.

Er gab dem Berufungsgericht inhaltlich u. a. das Folgende mit auf den Weg:

  1. Auch wenn die o. g. 20 %-Klausel vereinbart sei, müssen zunächst die bisherige berufliche Tätigkeit und die Verweisungstätigkeit in ihren jeweiligen tatsächlichen Ausgestaltungen mit allen Einzelheiten (Lohn, Verantwortung, Arbeitszeit, Arbeitswege, Wochenarbeitstage, Nachtschichten, Urlaub etc.) und auch in Bezug auf die soziale Wertschätzung etc. erfasst werden. Danach wird festgestellt, ob die Tätigkeiten vergleichbar sind und die Verweisungstätigkeit der bisherigen Lebensstellung entspricht. Erst dann kommt es auf das Einkommen an.
  2. Bei dem Einkommensvergleich ist nur das vor Geltendmachung der BU tatsächlich erzielte Einkommen zu berücksichtigen, nicht, wie es sich, z. B. wegen tariflicher Fortschreibung, bis zum Vergleichszeitpunkt entwickelt hätte. Beim Einkommensvergleich kommt es entscheidend auf die Sicherstellung der individuellen bisherigen Lebensumstände an.
  3. Keine Regel ohne Ausnahme: Die Einkommensfortschreibung ist nur dann berücksichtigungsfähig, wenn auf Grund eines besonders langen Zeitraums zwischen dem Eintritt der BU und ihrer Nachprüfung eine objektive Vergleichbarkeit des Einkommens und der damit verbundenen Lebensstellung nicht mehr gewährleistet ist.

Wie wir sehen, machen es Zahlen nicht leichter.

Und das ist an sich auch richtig so. Denn zum einen lässt sich eine generelle Quote der hinzunehmenden Einkommenseinbuße angesichts der Bandbreite individueller Einkommen nicht festlegen (so auch BGH, Urteil vom 07.12.2016 – IV ZR 434/15). Und im Weiteren würden die vehementen Unterschiede bei den heute vielfältigen konkreten beruflichen Ausgestaltungen einschließlich Arbeitswegen, Verantwortungen, täglichen Unwägbarkeiten, Sicherheitsbelangen etc. völlig außer Acht gelassen werden, was m. E. den Interessen des VN mehr zuwiderlaufen, als ihm nützen würde.


Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

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