Bundesgerichtshof präzisiert Schutzpflichten von Pflegeheimen

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Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs, zuständig für Rechtsstreitigkeiten über Dienstverhältnisse, hat in einem Urteil entschieden, dass ein an Demenz erkrankter Pflegeheimbewohner bei erkannter oder erkennbarer Selbstschädigungsgefahr nicht in einem im Obergeschoss gelegenen Wohnraum mit leicht zugänglichen und einfach zu öffnenden Fenstern untergebracht werden darf.

Sachverhalt:

In diesem Fall hat die Klägerin, die Miterbin ihres Ehemannes, die Beklagte, ein Alten- und Pflegeheim, auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes verklagt. Der Ehemann der Klägerin lebte seit Februar 2014 in diesem Pflegeheim. Er litt unter schwerer Demenz, Gedächtnisstörungen aufgrund des Korsakow-Syndroms, psychisch-motorischer Unruhe, örtlicher, zeitlicher, räumlicher und situativer Desorientierung sowie Selbstgefährdungstendenzen.

Die Beklagte brachte den Ehemann in einem Zimmer im dritten Obergeschoss (Dachgeschoss) unter, das über zwei große Dachfenster verfügte, die nicht gegen unbeaufsichtigtes Öffnen gesichert waren. Der Fußboden befand sich 120 Zentimeter über dem Boden, und vor den Fenstern gab es einen 40 Zentimeter hohen Heizkörper sowie eine 70 Zentimeter hohe Fensterbank, die es ermöglichte, stufenweise zur Fensteröffnung zu gelangen. Am 27. Juli 2014 stürzte der Heimbewohner aus einem der Fenster und erlitt schwere Verletzungen, an denen er später verstarb.

Die Klägerin argumentierte, dass die Beklagte angemessene Schutzmaßnahmen zur Verhinderung des Fenstersturzes versäumt habe, obwohl es klare Anzeichen für Selbstgefährdung gegeben habe. Die Unterbringung im dritten Obergeschoss mit leicht zugänglichen Fenstern sei eine erhebliche Pflichtverletzung gewesen.

Bisheriger Prozessverlauf:

Das Landgericht wies die Klage auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes von mindestens 50.000 € nebst Zinsen und vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten ab. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Das Oberlandesgericht argumentierte, dass aus den vom Kläger vorgetragenen Informationen und den vorgelegten Unterlagen nicht hervorging, dass die Beklagte ihre vertraglichen Obhutspflichten oder die allgemeine Verkehrssicherungspflicht verletzt habe. Der Sturz sei im normalen, alltäglichen Gefahrenbereich geschehen, der grundsätzlich der Eigenverantwortung des Geschädigten zuzuordnen sei. Sicherungsmaßnahmen gegen das Hinausklettern des Bewohners durch das Fenster hätten nur dann ergriffen werden müssen, wenn eine Selbstgefährdung aufgrund seiner Verfassung und seines Verhaltens ernsthaft zu erwarten gewesen wäre. Diesbezüglich lagen jedoch keine ausreichenden Hinweise vor. Sein geistiger Zustand und sein inadäquates Verhalten hätten keine Sicherungsmaßnahmen in Bezug auf die Fenster erforderlich gemacht.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs:

Der Bundesgerichtshof gab der Revision der Klägerin gegen das Berufungsurteil statt und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht zurück.

Der Heimbetreiber hat die Pflicht, die ihm anvertrauten Bewohner vor Gefahren zu schützen, die sie nicht selbst bewältigen können, unter Berücksichtigung ihrer Würde und ihres Selbstbestimmungsrechts. Die genaue Ausgestaltung dieser Verpflichtung kann nicht pauschal festgelegt werden, sondern muss durch eine Abwägung aller Umstände des jeweiligen Falls entschieden werden. Dabei ist entscheidend, ob aufgrund der geistigen und körperlichen Verfassung des pflegebedürftigen Bewohners ernsthaft damit gerechnet werden musste, dass er sich ohne Sicherungsmaßnahmen selbst schädigen könnte. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass bereits eine Gefahr, deren Eintritt nicht sehr wahrscheinlich ist, aber schwerwiegende Folgen haben kann, Sicherungsmaßnahmen des Heimträgers rechtfertigen kann.

Im vorliegenden Fall darf ein an Demenz erkrankter Heimbewohner mit erkannter oder erkennbarer Selbstschädigungsgefahr nicht in einem Zimmer im Obergeschoss mit leicht zugänglichen und einfach zu öffnenden Fenstern untergebracht werden. Ohne konkrete Anhaltspunkte für Selbstgefährdung bestehen jedoch keine Pflichten zur Ergreifung von Sicherungsmaßnahmen.

Das Berufungsgericht hatte die Situation des Heimbewohners unvollständig bewertet und wesentliche Aspekte bei der Abwägung nicht berücksichtigt. Der geistige Zustand des Bewohners und sein inadäquates Verhalten, einschließlich der Möglichkeit des Herauskletterns aus dem Fenster, hätten sorgfältig geprüft werden müssen.

Im neuen Verfahren wird das Berufungsgericht unter Berücksichtigung einer möglichen medizinischen Risikoprognose die Gesamtsituation des Bewohners, insbesondere seine Demenzerkrankung und die damit verbundene geistige und körperliche Verfassung, eingehend prüfen müssen.

Die relevanten Vorschriften sind:

  • § 253 Abs. 2 BGB: Schadensersatz wegen Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbest

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