Existenzbedrohend und vermeidbar: Compliance-Risiken für Geschäftsleiter nach der Wirecard-Entscheidung
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Das Urteil des Landgerichts München I vom 5. September 2024 ist ein entscheidender Moment in der Haftung von Organmitgliedern und zeigt deutlich: Entscheidungen ohne ausreichende Informationsgrundlage und mangelhafte Dokumentation können Geschäftsleiter auch Jahre später in Haftung bringen. Das Gericht betont, dass unter hohem Risiko ohne geschäftliche Rechtfertigung getroffene Entscheidungen nicht vertretbar sind. Der Artikel von Dr. Marc Laukemann zieht wesentliche Lehren aus der sogenannten Wirecard-Entscheidung und bietet praxisnahe Handlungsanweisungen, um Haftungsrisiken im Berufsalltag zu minimieren. Zu den Kernpunkten gehören die Notwendigkeit eines internen Frühwarnsystems, strenge Anforderungen bei der Kreditvergabe, die Bedeutung umfassender Dokumentation, die Wichtigkeit formaler Zustimmungen durch Aufsichtsgremien und das gebotene Misstrauen im Management als Schutz vor Haftungsfällen. Darüber hinaus unterstreicht der Beitrag die zunehmende Wichtigkeit von präventiven Maßnahmen und betont, dass die Digitalisierung in Zukunft eine wichtige Rolle bei der Dokumentation und damit bei der Entlastung in Haftungsprozessen spielen könnte. Dr. Marc Laukemann, Gründungspartner bei LFR Wirtschaftsanwälte, hebt hervor, dass die Verantwortung von Geschäftsleitern heute weitreichender ist denn je und empfiehlt, proaktiv zu handeln, um persönliche Haftungsrisiken zu vermeiden.
Von Dr. Marc Laukemann*
Das Urteil des Landgerichts München I (vom 5. September 2024, Az. 5 HK O 17452/21, nicht rechtskräftig) ist ein Meilenstein in der Organhaftung. Es zeigt mit unerbittlicher Schärfe: Entscheidungen ohne fundierte Informationsbasis und unzureichende Dokumentation führen direkt in die Haftung – auch Jahre später. Die zentrale Botschaft des Gerichts: Wenn aus der Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters das hohe Risiko eines Schadens unabweisbar ist und keine vernünftigen geschäftlichen Gründe dafür sprechen, kann eine Entscheidung nicht gerechtfertigt werden.
Dieses Urteil mag extrem erscheinen, ist jedoch ein realistisches Szenario für Geschäftsführer. Der nachfolgende Beitrag analysiert zentrale Lehren aus der Wirecard-Entscheidung und gibt konkrete Handlungsanweisungen für Ihren Arbeitsalltag.
1. Grundsatz: Kein Vertrauen ohne Kontrolle
Der Wirecard-Skandal illustriert eine zentrale Schwäche vieler Führungsebenen: blindes Vertrauen in Kollegen oder eingespielte Abläufe. Die Rechtsprechung betont den Grundsatz der Gesamtverantwortung (§ 77 Abs. 1 AktG) und die strenge Dokumentationspflicht.
#Learning 1: Gesamtverantwortung endet nicht an Ressortgrenzen
Das Urteil zeigt: Auch nicht-ressortzuständige Vorstände haften, wenn sie Warnsignale ignorieren. Die Rechtsprechung des BGH (z. B. Urteil vom 20.09.2018 – II ZR 300/16) fordert, dass Vorstände tätig werden, wenn Anhaltspunkte für Pflichtverletzungen bestehen. Das Landgericht München I konkretisiert dies: Wer auf Warnsignale nicht reagiert, verletzt seine Überwachungs- und Dokumentationspflichten.
Beispiele für Warnsignale:
- Ignorierte Zustimmungsvorbehalte des Aufsichtsrats.
- Fehlen von Bonitätsprüfungen oder Kreditvorlagen.
- Ungenügende Dokumentation von Entscheidungsgrundlagen.
Praxis-Tipp:
- Entwickeln Sie ein internes Frühwarnsystem, das kritische Vorgänge automatisiert anzeigt.
- Dokumentieren Sie alle Diskussionen und Entscheidungen, insbesondere bei Meinungsverschiedenheiten in der Geschäftsführung.
2. Scharfe Anforderungen an Kreditvergaben
Einer der zentralen Punkte im Wirecard-Urteil ist die Vergabe ungesicherter Kredite. Das Gericht urteilte, dass die Business Judgement Rule (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG) nicht greift, wenn es an einer angemessenen Informationsbasis fehlt.
Zitat LG München I:
„Wenn aus der Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters das hohe Risiko eines Schadens unabweisbar ist und keine vernünftigen geschäftlichen Gründe dafür sprechen, ist das Verhalten pflichtwidrig.“
#Learning 2: Die Kreditvergabe ohne Sicherheiten ist in der Regel pflichtwidrig!
Jede Kreditvergabe bedarf einer sorgfältigen Analyse der Situation. Es ist es wichtig, zwischen „roten“ und „grünen“ Flaggen zu unterscheiden. Das Gericht erkannte zwar positive Signale (z. B. vertragsgemäße Bedienung früherer Darlehen), gewichtete jedoch das existenzbedrohende Risiko für die Wirecard AG (im Falle des kompletten Darlehensausfalls) höher.
Praxis-Tipp:
- Bestehen Sie auf einer umfassenden Bonitätsprüfung und lassen Sie diese extern validieren.
- Legen Sie interne Richtlinien fest, die ungesicherte Kredite nur in Ausnahmefällen und mit Zustimmung des Aufsichtsrats erlauben.
- Bei wichtigen Kreditvergaben wie auch bei der Prüfung der Angemessenheit von Sicherheiten sollte das Vier-Augen-Prinzip beachtet werden.
Rechtsprechung zur Orientierung:
- BGH, Urteil vom 3.3.2008 – II ZR 124/06: Die Teilnahme der Telekom an der milliardenschweren UMTS-Lizenzversteigerung war trotz hoher Risiken vertretbar, da erhebliche Marktchancen bestanden.
3. Dokumentation: Das A und O der Entlastung
Ein weiterer zentraler Aspekt ist die unzureichende Dokumentation. Die Wirecard-Entscheidung macht deutlich, dass fehlende Nachweise zu Lasten des Geschäftsleiters gehen. Besonders die Frage der Kenntnis von Vertragsinhalten wird hier betont.
#Learning 3 Wichtige Verträge musst Du selbst gelesen haben
Das Landgericht stellte klar: Bei existenzbedrohenden Kreditverträgen wird eine genaue Kenntnis des Wortlauts verlangt. Dies mag praxisfern klingen, ist jedoch eine Konsequenz aus der strengen Beweislastregel (§ 93 Abs. 2 AktG).
Praxis-Tipp:
- Nutzen Sie digitale Tools, um Entscheidungsprozesse und Vertragslektüre zu dokumentieren.
- Entwickeln Sie ein Standardprotokoll für Vertragsprüfungen, das die relevanten Punkte festhält.
Zukunftsperspektive:
Die Digitalisierung kann hier Abhilfe schaffen. Transkripte von Besprechungen oder KI-gestützte Protokollierungen könnten in Haftungsprozessen eine zentrale Entlastungsgrundlage sein.
4. Zustimmung des Aufsichtsrats: Formale Hürden zählen
Die Praxis zeigt oft eine informelle Handhabung von Zustimmungsvorbehalten. Das Wirecard-Urteil verdeutlicht jedoch, dass dies eine erhebliche Haftungsfalle darstellt.
#Learning 4: Zustimmung durch den Aufsichtsratsvorsitzenden reicht nicht aus
Das LG München I betonte, dass die Zustimmung des Gesamtaufsichtsrats erforderlich ist und nicht durch informelle Abstimmungen oder den Vorsitzenden ersetzt werden kann.
Praxis-Tipp:
- Halten Sie alle Aufsichtsratszustimmungen schriftlich und vollständig fest.
- Verzichten Sie auf informelle Abstimmungen bei kritischen Entscheidungen.
Rechtsprechung:
- BGH, Urteil vom 24.11.2015 – II ZR 304/14: Die Einhaltung formaler Anforderungen ist nicht verhandelbar, insbesondere bei zustimmungspflichtigen Geschäften.
5. Vertrauen und Kontrolle: Der schwierige Balanceakt
Als Mitglied der Geschäftsleitung darf man seinen Kollegen kein uneingeschränktes Vertrauen entgegenbringen, insbesondere nicht darauf vertrauen, dass der fachlich näherstehende zuständige Verantwortliche alle Risiken im Griff hat. Auch die nachgeordneten Managementebenen dürfen Bedenken nicht in dem Glauben aufgeben, das Management wisse, was es tut. Mit krimineller Energie auf Managementebene muss, so selten sie auch auftritt, gerechnet werden. Daher zeigt die Rechtsprechung wenig Verständnis für die praktischen Spannungen zwischen Vertrauen und Kontrolle. Die Gesamtverantwortung verlangt von Geschäftsleitern, dass sie auch in schwierigen Situationen klare Grenzen ziehen.
#Learning 5 Misstrauen ist erste Vorstandspflicht
Offen geäußertes Misstrauen kann die Zusammenarbeit im Vorstand belasten. Doch Haftungsrisiken erfordern eine professionelle und sachliche Kommunikation.
Praxis-Tipp:
- Entwickeln Sie klare Kommunikationsregeln, die kritische Nachfragen ermöglichen, ohne Vertrauen zu untergraben.
- Lassen Sie sich von Experten (z. B. Wirtschaftsprüfern oder Anwälten) bei strittigen Entscheidungen unterstützen.
Achtung: Geschäftsleiter müssen darauf achten, dass der Berater seine Meinung wirklich unvoreingenommen und ohne den Druck von Erwartungen zum Ausdruck bringt.
Fazit: Vorsicht ist besser als Nachsicht
Das Wirecard-Urteil zeigt, dass Geschäftsleiter heute mehr denn je Verantwortung tragen – nicht nur für das Unternehmen, sondern auch für ihr persönliches Vermögen. Die Anforderungen an Dokumentation, Transparenz und Kontrolle steigen. Handeln Sie proaktiv, bevor es zu spät ist.
Unsere Expertise für Ihre Sicherheit:
Wir bei LFR Wirtschaftsanwälte in München unterstützen Geschäftsführer und Vorstände bei der Prävention von Haftungsrisiken. Von der Entwicklung von Compliance-Strukturen bis zur Beratung in kritischen Entscheidungssituationen – wir stehen Ihnen zur Seite. Kontaktieren Sie uns – Ihr Schutz ist unsere Priorität.
Über den Autor:
Dr. Marc Laukemann ist Gründungspartner bei LFR Wirtschaftsanwälte sowie u.a. Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht und berät Geschäftsführer und Vorstände zu Haftungsrisiken und Compliance. Er verfügt über umfangreiche Erfahrung bei der Abwehr von Schadensersatzklagen gegen Geschäftsleiter.
Weitere Informationen zur Geschäftsführerhaftung und IT-Recht finden Sie unter Gesellschaftsrecht.
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