Fluggastrecht – Flugverspätung/Ausgleichsansprüche trotz Nichtantritt des verspäteten Flugs

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Der nachfolgende Beitrag behandelt die Abwicklung eines Falles aus dem Bereich der Fluggastrechte (EG-Verordnung 261/2004).

Schwerpunkt

Zur Frage, ob ein Ausgleichsanspruch wegen einer großen Verspätung verloren geht, wenn der Fluggast gerade wegen der sich abzeichnenden Verspätung den Flug nicht (mehr) antreten will.

Ausgangslage

Die Fluggäste wollten von Basel (BSL) nach Berlin-Schönefeld (SXF) fliegen. Es kündigte sich eine Flugverspätung von knapp 12 Stunden an. Aufgrund der angekündigten Flugverspätung lehnten die Fluggäste eine Beförderung ab und forderten die Ausgleichsleistung.

Die zentrale Frage des Streits war, ob Fluggäste sich bei verspäteten (nicht annullierten) Flügen befördern lassen müssen, um in den Genuss der Ausgleichszahlungen zu kommen.

Die Airline meinte, dass ein Anspruch, gerichtet auf Ausgleichsleistung sachnotwendig voraussetzen würde, dass die Fluggäste auch verspätet am letzten Zielort ankommen würden.

Zu Recht?

Die Entscheidung

Nein, urteilte das Gericht. Die Airline wurde zur Zahlung der Ausgleichsleistungen von € 250,00 pro Person verurteilt.

Das Gericht führte aus:

„Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH und des BGH ist eine so genannte große Verspätung, also eine Verspätung von mehr als drei Stunden, nur dann einer Annullierung im Sinne des Art. 5 EGV Nr. 261/2004 gleich zu behandeln, wenn die Verspätung bei der Ankunft, also am Reiseziel eintritt. Soweit Gerichte hieraus herleiten, dass der Anspruch auf Ausgleichsleistung im Falle der großen Verspätung nur dann entstehen kann, wenn der Flugreisende den verspäteten Flug auch tatsächlich antritt, vermag dem das erkennende Gericht nicht zu folgen.

Art. 5 der Verordnung gewährt dem Flugreisenden in jedem Falle die Ausgleichsleistung nach Art. 7. Darüber hinaus verweist die Vorschrift auf Art. 8 der Verordnung. Damit hat der Flugreisende nach eigenem Ermessen das Recht, neben der Ausgleichsleistung zu wählen, ob er die Flugreise später noch antritt oder vom Flug – unter Erstattung des Flugpreises – endgültig Abstand nimmt. Die Ausgleichsleistung bleibt ihm in jedem Falle erhalten.

Die entsprechende Anwendung der Vorschrift über die Annullierung mit der Rechtsfolge des Anspruchs auf die Ausgleichsleistung im Falle der großen Ankunftsverspätung folgt dem Grundsatz größtmöglichen Verbraucherschutzes, wie es insgesamt Intention der europarechtlichen Verbraucherschutzvorschriften ist. Der Flugreisende soll mit der Ausgleichsleistung für die „Unannehmlichkeiten“ entschädigt werden, die sich aus einer durch das Luftfahrtunternehmen zu verantwortenden nachteiligen Veränderung des geschlossenen Beförderungsvertrages ergeben. Grundlage der Gleichbehandlung von Annullierung und großer Ankunftsverspätung ist nach der Rechtsprechung des EuGH im Ergebnis die gleiche Interessenlage des Flugreisenden.

Zwar hat die Entscheidung, den verspäteten Flug nicht anzutreten und also nicht am Zielort anzukommen, im Falle des Nichtantritts der Flugreisende selbst getroffen. Diese Entscheidung aber ist Folge der durch das Luftfahrtunternehmen zu verantwortenden großen Verspätung. Damit entspricht die Situation der im Falle des Vorliegens einer Annullierung. Würde das Luftfahrtunternehmen im Falle der Annullierung nach Art. 5 Abs. 1 a) i. V. m. Art. 8 Abs. 1 b) der Verordnung dem Flugreisenden einen späteren Flug anbieten, der gegebenenfalls nur wenige Stunden nach dem annullierten Flug stattfindet, könnte der Flugreisende gleichwohl den Nichtantritt der Reise wählen, behielte aber den Anspruch auf die Ausgleichsleistung nach Art. 7 der Verordnung.

Gründe, weshalb dann im Falle einer erkennbaren großen Ankunftsverspätung der Flugreisende unter Erhalt des Anspruchs auf Ausgleichsleistung nicht ebenfalls Abstand von der Beförderungsleistung nehmen können sollte, sind nicht ersichtlich. Die Interessenlage ist in beiden Fällen vergleichbar.“

(AG Königs Wusterhausen, Urteil vom 08.04.2014, Az.: 4 C 1304,13)

Das Urteil ist rechtskräftig.

Stellungnahme 

Das Urteil ist nicht unumstritten. Es verdient aber Zustimmung.

Das Gericht hat zunächst darauf abgestellt, dass eine Annullierung und eine Flugverspätung voneinander zu trennen sind und hierzu ausführlich ausgeführt. Dies entspricht mittlerweile der herrschenden Auffassung in der Rechtsprechung und soll an dieser Stelle nicht weiter thematisiert werden.

Anders als bei einer Flugverspätung nämlich kann bei einer Flugannullierung der Fluggast eine alternative Beförderung wählen. Art und Umfang der alternativen Beförderung sind in der Rechtsprechung gegenwärtig noch umstritten.

Hätte ein Fall der Flugannullierung vorgelegen, wären die Fluggäste in jedem Fall berechtigt, die Beförderung unter den Voraussetzungen des Art. 8 der FluggastrechteVO abzulehnen, ohne ihre Ausgleichsansprüche zu „riskieren“Hierzu hat das Gericht ausgeführt.

Das Gericht hat sodann eine Analogie zwischen den Regeln zur Flugannullierung und denjenigen Regeln zur Flugverspätung gezogen und ausgeführt, dass es bei Lichte gesehen keinen Strukturunterschied gibt. Dies ist zunächst richtig.

Daher war für das Gericht auch nicht einleuchtend, dass bei identischem Sachverhalt eine Flugannullierung unstreitig die Airline zur Ausgleichsleistung verpflichtet hätte, während eine (reine) Flugverspätung den Anwendungsbereich des Art. 8 FluggastrechteVO (Rücktritt / alternative Beförderung) nicht eröffnen würde.

Begründet hat dies das Gericht mit dem hohen Schutzniveau, welches der FluggastrechteVO vom EU-Verordnungsgeber zuerkannt wurde.

Praxistipp

Wir halten das Urteil für richtig. Es wird allerdings abzuwarten bleiben, ob andere Gerichte dieser Rechtsauffassung folgen werden.

Sofern sich Fluggäste bei einer sich abzuzeichnenden Flugverspätung dazu entschließen, den Flug nicht anzutreten, sollte sichergestellt sein, dass die voraussichtliche Ankunftsverspätung des ursprünglichen (verspäteten) Flugs drei Stunden oder mehr betragen wird.

Sollte der Fluggast dann eine alternative Beförderung wählen, die dazu führt, dass der Fluggast am letzten Ziel zwar zu spät ankommt, diese Verspätung aber weniger als drei Stunden beträgt (kleine Flugverspätung), dürften zwar die Mehrkosten für den alternativen Flug nach Art. 8 FluggastrechteVO erstattungsfähig sein.

Da es dann aber in der Gesamtschau an einer großen Flugverspätung (drei Stunden oder mehr Verspätung am letzten Zielort) mangelt, wären wohl Ausgleichsansprüche nicht mehr realisierbar.

Kanzlei RAS 

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Rechtstipp aus den Rechtsgebieten

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