Ist die Verschiebung elektiver Operationen wegen der Corona-Pandemie verhältnismäßig? – Teil 2 –

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Während der Beschluss der Bundeskanzlerin und der 16 Regierungschefinnen und Regierungschefs der Bundesländer keine normative Wirkung entfaltet, haben einige Bundesländer Verordnungen und Anordnungen erlassen, welche die Verschiebung elektiver medizinischer Maßnahmen wie Aufnahmen, Eingriffe und Operationen anordnen. Betroffen von diesen Regelungen sind nicht nur Behandlungen, wie Eingriffe und Operationen, sondern auch diagnostische Maßnahmen. 

Neben der Problematik, ob die erlassenen Regelungen und Anordnungen formell zulässig sind, erscheint auch in Hinblick auf die verschiedenen Regelungen in den einzelnen Bundesländern fraglich, ob diese dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen.

Ziel der Verschiebung dieser elektiven medizinischen Maßnahmen ist es, auch bei einem massiv steigenden Behandlungsbedarf infolge von COVID-19-Erkrankungen jede akut medizinisch notwendige Behandlung sicherzustellen. Die Regelungen dienen damit dem Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit der Behandlungsbedürftigen. Zugleich geht jedoch mit der Verschiebung medizinisch indizierter Maßnahmen ein Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit der hiervon betroffenen Patientinnen und Patienten einher. 

Diese konkurrierenden Interessen müssen in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden. Man spricht von praktischer Konkordanz. Hierbei ist für jeden konkreten Einzelfall zu prüfen, inwiefern der Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügt.

Woran orientiert sich eine angemessene Entscheidung über die Verschiebung von elektiven medizinischen Maßnahmen?

Welche medizinischen Maßnahmen vor dem Hintergrund der getroffenen Regelungen abgesagt werden sollten, richtet sich, wie es auch der Beschluss vom 12.03.2020 festlegt, zunächst danach, ob deren Verschiebung medizinisch vertretbar ist. Daneben ist auch zu beachten, dass die Verschiebung der medizinischen Maßnahme erforderlich sein muss. Das heißt, die Entscheidung darüber, welche Maßnahmen abgesagt werden, hat sich auch an den noch verfügbaren medizinischen Kapazitäten zu orientieren. Diese Ressourcen dürfen nicht ungenutzt gelassen werden. Dabei sind nicht nur die Kapazitäten in dem jeweiligen Krankenhaus bzw. der einzelnen Klinik zu berücksichtigen, sondern ebenfalls die der umliegenden Kliniken.

Im Hinblick auf die Frage, ob z. B. eine Operation in medizinisch vertretbarer Weise verschiebbar ist, ist zu beachten, dass grundsätzlich keine festen, unflexiblen Fallgruppen gebildet werden sollten, sondern für jede Operation und jede weitere medizinische Maßnahme im Einzelfall zu prüfen ist, ob die Verschiebung vertretbar ist. Entscheidend für die medizinische Vertretbarkeit ist, ob die Verschiebung irreversible Schäden für den Betroffenen nach sich ziehen würde. 

So wird eine Operation am Auge nicht in medizinisch vertretbarer Weise verschiebbar sein, wenn infolge einer Makuladegeneration eine dauerhafte und irreversible Erblindung droht. Bei einer Sehbeeinträchtigung infolge eines Katarakts (grauer Star) hingegen kann eine Operation unter medizinischen Gesichtspunkten verschiebbar sein, insofern auch zu einem späteren Zeitpunkt die Sehkraft in vergleichbarer Weise wiederhergestellt werden kann. 

Ebenso ist eine Krebsbehandlung bzw. -operation dann nicht in medizinisch vertretbarer Weise verschiebbar, wenn durch die Verschiebung der Behandlung eine schlechtere Heilungsprognose z. B. durch die Gefahr der Bildung von Metastasen hervorgerufen wird. Eine krebsbedingte Operation hingegen, die rein unter palliativen Aspekten erfolgt (zum Beispiel zur Vermeidung von druckbedingten Schmerzen durch einen Tumor) und keine Auswirkungen auf die Heilungsprognose hat, könnte unter medizinischen Gesichtspunkten als verschiebbar anzusehen sein. 

Hieraus wird ersichtlich, dass auch eine Verlängerung körperlicher und gesundheitlicher Leiden medizinisch vertretbar sein kann, solange auch zu einem späteren Zeitpunkt mit einem vergleichbaren medizinischen Ergebnis zu rechnen ist, wie es bei der Vornahme der medizinischen Maßnahme zum geplanten Zeitpunkt zu erwarten gewesen wäre. 

Kann eine medizinische Maßnahme unter medizinisch vertretbaren Gesichtspunkten grundsätzlich verschoben werden, ist durch den behandelnden Arzt in einem weiteren Schritt eine Prognose vorzunehmen, für welchen Zeitraum eine Verschiebung medizinisch vertretbar bleibt. So gibt es Operationen, die zwar noch einen gewissen Aufschub dulden, doch in absehbarer Zeit vorgenommen werden müssen, um eine dauerhafte Schädigung zu vermeiden oder einer Verschlechterung der Heilungschancen vorzubeugen. 

Vor diesem Hintergrund und dem Umstand, dass die aktuelle Corona-Krise das deutsche Gesundheitssystem über weitere Monate hinweg erheblich belasten wird, sollten bei Bestehen aktuell verfügbarer Ressourcen, diese nicht ungenutzt gelassen werden. Elektive medizinische Maßnahmen, die nur kurzfristig verschiebbar sind und daher damit zu rechnen ist, dass diese noch während der Corona-Krise vorgenommen werden müssen, sollten daher, solange tatsächliche Kapazitäten bestehen, nicht verschoben werden, um das Gesundheitssystem zu einem späteren Zeitpunkt zu entlasten bzw. um vor dem Hintergrund einer möglichen Überlastung des Gesundheitssystems, jetzt sicherzustellen, dass diese Behandlung auch tatsächlich erfolgt. Dabei ist es auch möglich Operationen örtlich in umliegende Ambulanzen und Krankenhäuser umzuleiten, wie es in der Praxis derzeit auch gehandhabt wird.

So werden Operationen, die nicht langfristig in medizinisch vertretbarer Weise verschoben werden können, an Fachkliniken umgeleitet. Auf diese Weise werden in den anderen Krankenhäusern medizinische Kapazitäten für die Versorgung des steigenden intensivmedizinischen Bedarfs freigesetzt.

Fazit

Trotz des steigenden Behandlungsbedarfs aufgrund COVID-19 darf die Behandlung anderer Patienten nicht in unangemessener Weise hinten angestellt werden. Akute Gesundheitsbeeinträchtigungen sowie Erkrankungen und Verletzungen, die einen Aufschub der Behandlung nicht zulassen, ohne dass hiermit eine irreversible Verschlechterung des Gesundheitszustandes bzw. der Heilungsprognose einhergeht, sollten unter Berücksichtigung der aktuellen Situation nicht verschoben werden. Dies gilt zumindest solange, wie tatsächlich ausreichend medizinische Kapazitäten vorhanden sind. 

Die letztliche Entscheidung obliegt dabei den behandelnden Ärzten. Kommt es entgegen der ärztlichen Einschätzung durch die Verschiebung der medizinischen Maßnahme zu einer irreversiblen weitergehenden Gesundheitsschädigung oder führt die Verschiebung zu einem dauerhaft bleibenden Schaden, so kommen Haftungsansprüche aufgrund eines ärztlichen Behandlungsfehlers in Betracht, an welchen jedoch strenge Voraussetzungen zu stellen sind. Daneben kommen, insofern die erlassenen Rechtsverordnungen und internen Anordnungen rechtswidrig sind, staatshaftungsrechtliche Ansprüche in Betracht.


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