Lohnt sich die Gleichstellung?

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„Sie haben doch immerhin einen Grad der Behinderung von 30. Nehmen Sie doch die Klage zurück und lassen Sie sich gleichstellen“, so oder ähnlich lautet häufig der Tipp eines Richters in der Verhandlung.

Aber: Warum sagt er/sie das? Lohnt sich eine Gleichstellung wirklich?

Hintergrund ist folgender: Die Schwerbehinderung beginnt erst mit einem Grad der Behinderung von 50. Vorher (20, 30 und 40) ist es nur eine Behinderung, die im Grunde keine Auswirkungen hat. Erst ab einem Grad der Behinderung von 50 gilt man als „echter“ Schwerbehinderter und hat einige Vorteile:

  • Freistellung von Mehrarbeit,
  • Zusatzurlaub,
  • Kündigungsschutz,
  • Rentenbezug ab 65 Jahre (derzeit noch 63 Jahre und einige Monate) ohne Abschläge, § 236a SGB VI.

Erst ab einem Grad der Behinderung von 50 können die Nachteilsausgleiche wie „G“ (gehbehindert), „aG“ (außergewöhnlich gehbehindert) oder „B“ (ständige Begleitung erforderlich) in Anspruch genommen werden.

Im Arbeitsrecht gibt es jedoch eine entscheidende Ausnahme: Personen, die einen Grad der Behinderung von mindestens 30 haben, können sich gleichstellen lassen. D. h., sie haben dann erhöhten Kündigungsschutz und können sich auch auf Stellen bewerben, bei denen es heißt: „Bei gleicher Eignung werden schwerbehinderte Bewerber bevorzugt“.

Die meisten Antragsteller mit einem Grad der Behinderung von 30/40 sehen im ersten Augenblick nur die „Gleichbehandlung“ und akzeptieren den Vorschlag des Gerichts. Was aber zunächst unbeachtet bleibt und in den Hintergrund gedrängt wird: Die Gleichstellung gilt nur für den Kündigungsschutz bzw. die erleichterten Bedingungen zur Erlangung eines Arbeitsplatzes. 

Ein Anrecht auf Zusatzurlaub besteht nicht; insbesondere gibt es keinen Anspruch auf vorgezogenen Altersrentenbezug!

Zudem ist die Gleichstellung nicht so einfach, wie sie auf den ersten Blick aussieht: Es ist keineswegs so, dass mit dem Grad der Behinderung von 30 bei Arbeitnehmern/Bewerbern automatisch die Gleichstellung erfolgt. Vielmehr müssen die Behinderten einen Antrag bei der Agentur für Arbeit stellen, wo entschieden wird, ob die Gleichstellung überhaupt notwendig ist. Beispielsweise muss geprüft werden, ob der Arbeitsplatz überhaupt geeignet ist für einen behinderten Arbeitnehmer. Sind von einer „Kündigungswelle“ beispielsweise behinderte wie nichtbehinderte Arbeitnehmer betroffen, ist die Gleichstellung nicht notwendig.

D. h., mit der Erlangung des Grad der Behinderung von 30 ist der „Papierkram“ noch lange nicht beendet. Mit dem Antrag wird ein neues Verwaltungsverfahren in Gang gesetzt. Das kann seine Zeit in Anspruch nehmen – manchmal sogar zu viel Zeit. Denn gleichgestellt werden „Arbeitnehmer, die von Kündigung bedroht sind“. Wenn also das Damoklesschwert der drohenden Kündigung bereits über dem Arbeitnehmer hängt, kann der es sich in der Regel nicht leisten, noch ein zeitaufwändiges Verwaltungsverfahren abzuwarten (Faustregel: Spätestens drei Wochen vor Erhalt des Kündigungsschreibens sollte der Gleichstellungsantrag gestellt sein). Geht das Gleichstellungsverfahren dann schlimmstenfalls in ein Widerspruchsverfahren und gar Klageverfahren über, ist er meistens schon gekündigt.

Genau das gleiche gilt für Bewerber mit einem Grad der Behinderung von 30: Falls sie die Gleichstellung erst noch im Verwaltungs- und Klageweg durchsetzen müssen, ist die begehrte Stelle oft schon vergeben. Und sobald dieses Stellenangebot erst einmal weg ist, besteht auch keine Notwendigkeit für eine Gleichstellung mehr. Die Angelegenheit hat sich sozusagen durch Zeitablauf erledigt.

Zurück zur Ausgangsfrage: Lohnt sich die Gleichstellung? Ist es empfehlenswert, eine Klage zurückzunehmen? Antwort: Nein. Ein Gleichstellungsverfahren dauert zu lange. Und meiner Erfahrung nach steht bei den sozialrechtlichen Klageverfahren nicht das Interesse am Kündigungsschutz im Vordergrund, sondern an der (abschlagsfreien) Rente für schwerbehinderte Menschen. Diese ist durch Gleichstellung nicht zu erreichen.


Rechtstipp aus den Rechtsgebieten

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