Pflegebedürftigkeit und Wohnform

  • 7 Minuten Lesezeit

Viele Pflegebedürftige können nicht im eigenen Haushalt leben. Das kann jeden treffen, egal, ob Senior, Kind oder Jugendlicher. Die Leistung der Pflegeversicherung hängt von der Wohnform des Menschen ab.

Häusliche Pflegeleistungen (z. B. Pflegesachleistung, Pflegegeld, Wohngruppenzuschlag, Entlastungsbetrag und Verhinderungspflege) sind möglich für Menschen, die allein, mit einem Partner zusammen, bei den Eltern oder in einer Wohngruppe leben. Wenn Pflegebedürftige aber in einer stationären Pflegeeinrichtung (Pflegeheim) oder in einer Einrichtung nach § 71 Abs. 4 SGB XI gepflegt werden, sind diese Leistungen unzulässig (vgl. § 36 Abs. 4 Satz 1 SGB XI). Für Bewohner dieser Einrichtungen nach § 71 Abs. 4 SGB XI zahlt die Pflegekasse nur 266 Euro monatlich.

Problematisch ist das für alle Bewohner der bisherigen stationären Wohneinrichtungen der Eingliederungshilfe (oder auch Wohneinrichtung der Behindertenhilfe oder Wohnstätte). Diese Einrichtungen heißen seit 01.01.2020 "besondere Wohnform". In diesen Einrichtungen erbringt die Wohnform die Pflegeleistung. Die Pflegeversicherung beteiligt sich mit der Zahlung der 266 Euro an den in der Wohnform erbrachten Pflegeleistungen, § 43a SGB XI. Das Geld wird direkt an den Träger der Wohnform oder der Eingliederungshilfe gezahlt.

Nur für die Zeit, in der pflegebedürftige Menschen mit Behinderung zu Hause z. B. bei ihren Kindern, Eltern oder Geschwistern sind, können sie zum Beispiel anteilig Pflegegeld bekommen, § 43a SGB XI. Die Tage der An- und Abreise gelten als volle Tage der häuslichen Pflege, für die Pflegegeld zu zahlen ist.

Vor dem 01.01.2020 war unklar, ob behinderte Menschen, die in einer Wohngruppe (WG) leben, weiterhin die o.g. Leistungen für die häusliche Pflege bekommen würden. Seit 1. Januar 2020 sind die neuen Regelungen in Kraft (§ 71 Absatz 4 SGB XI in Verbindung mit einer Richtlinie) und es ist davon auszugehen, daß die Leistungen für die häusliche Pflege für bisher als ambulant geltende WG auch weiterhin gewährt werden. Das bedeutet, daß den Bewohnern nach wie vor die Leistungen für die häusliche Pflege zustehen. Etwas anderes kommt nach der Richtlinie nur dann in Betracht, wenn sich die Versorgungsform geändert hat. Wer in einer WG lebt, häusliche Pflegeleistungen beantragt und eine Ablehnung bekommt, sollte dagegen Widerspruch einlegen, wenn sich an der bisherigen Form des Wohnens nichts geändert hat und bis Ende 2019 die ambulanten Leistungen der Pflegeversicherung wie z.B. der Wohngruppenzuschlag bewilligt worden waren.

Außerdem kann sich ein Anspruch auf die Pflegeleistungen daraus ergeben, daß der Antragsteller sich auf Bestandsschutz berufen kann (§ 145 SGB XI). Das ist etwa dann der Fall, wenn der Antragsteller am 01.01.2017 in einer Wohnform gelebt hat, in der er die ambulanten Pflegeleistungen bekommen konnte. Diese Regelungen sind allerdings kompliziert. Bei Fragen zum Bestandsschutz kann ich Sie gerne beraten.

Für Menschen, die eine neue WG gründen, kommt es nach der Richtlinie darauf an, ob sie mit dem Leistungserbringer einen Wohn- und Betreuungsvertrag (WBVG) abgeschlossen haben und die Organisation der WG in der Gesamtverantwortung des Leistungserbringers liegt. Die Gesamtverantwortung kann sich auf die Unterkunft, die Verpflegung und die Gestaltung des Alltags beziehen. Gesamtverantwortung kann auch dann vorliegen, wenn die Bewohner ihre eigenen Möbel mitgebracht haben.

Was, wenn die Gesamtverantwortung des Leistungsanbieters gegen eine ambulante Wohnform spricht? Dann bekommen die Bewohner nicht die Leistungen für die häusliche Pflege (z.B. Pflegegeld und Wohngruppen-Zuschlag). In diesem Fall zahlt die Pflegekasse monatlich pauschal nur maximal 266 Euro für ihre Pflege. Das ist auch möglich, wenn die umfassende Versorgung erst zu einem späteren Zeitpunkt in Anspruch genommen werden soll, aber bereits im WBVG-Vertrag vereinbart wurde.

Für Menschen im Pflegeheim übernimmt die Pflegeversicherung einen Teil der Kosten für die Pflege in der stationären Einrichtung. Der pflegebedürftige Mensch muss dann immer noch aus eigener Tasche einen hohen Eigenanteil für die Pflege zahlen. Daran wird auch die sog. "kleine Pflegereform", die im Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz (GVWG) beschlossen wurde, nichts ändern:

Die Pflegesachleistungen und das Budget der Kurzzeitpflege werden ab 01.01.2022 erhöht (aber leider nicht das Pflegegeld!). Der Eigenanteil bei einer Versorgung in einem Pflegeheim gem. SGB XI wird ab 01.01.2022 reduziert: 5% Zuschuss zu den pflegebedingten Aufwendungen im ersten Jahr des Aufenthalts; 25 % Zuschuss im zweiten Jahr, 45 % Zuschuss im dritten Jahr und später 75%.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat im September 2020 in drei Entscheidungen klargestellt, daß die Voraussetzungen für den Wohngruppen-Zuschlag (WG-Zuschlag) großzügig zu verstehen sind.

- Der pflegebedürftige Mensch muss mit mindestens zwei und höchstens elf weiteren Personen in einer ambulant betreuten WG in einer gemeinsamen Wohnung zusammenleben. 

- Eine gemeinsame Wohnung ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil der persönliche Wohnraum jedes einzelnen Bewohners ebenfalls schon einen eigenen Sanitärbereich und eine Küche(nzeile) hat. Wichtig ist nur, daß allen Bewohnern und ihren Besuchern zu nutzende Gemeinschaftsräume zur Verfügung stehen.

- Von den Mitbewohnern müssen außer dem Antragsteller mindestens zwei weitere Bewohner einen Pflegegrad haben und Leistungen für die häusliche Pflege abrufen. Auch Menschen mit dem Pflegegrad 1 können den WG-Zuschlag abrufen, § 28a SGB XI. Die Nutzung häuslicher Pflegeleistungen, die oft zumindest den Pflegegrad 2 voraussetzen, ist keine Voraussetzung.

- Die Mitglieder der WG müssen eine Person gemeinschaftlich beauftragt haben, allgemeine organisatorische, verwaltende, betreuende oder das Gemeinschaftsleben fördernde Tätigkeiten zu verrichten oder bei der Haushaltsführung zu unterstützen.

- Beauftragte Person kann auch eine sog. juristische Person, also eine Firma/Gesellschaft bzw. ein Verein sein. Es können auch mehrere Personen mit unterschiedlichen Aufgaben beauftragt sein.

- Für die gemeinschaftliche Beauftragung müssen keine besonderen Formvorschriften gewahrt werden. Auch müssten nicht alle Mitglieder der (großen) Wohngemeinschaft an der Beauftragung beteiligt sein. Der Auftrag kann vielmehr auch aus der (kleineren) WG herausgestellt werden, also von mindestens drei und maximal zwölf Personen. Eine Wohngemeinschaft kann also aus mehreren Wohngruppen bestehen.

Aber: Es darf keine Versorgungsform vorliegen, die an eine stationäre Versorgung erinnert. Die aktive Einbindung des Bewohners und /oder seines sozialen Umfelds muß im Vertrag über das Wohnen vorgesehen sein. Es kommt nicht darauf an, ob von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird. Auch Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf können ambulant versorgt werden. Der hohe Unterstützungsbedarf führt nicht automatisch dazu, daß eine stationäre Versorgung anzunehmen ist. Gegen einen ablehnenden Bescheid, der eine stationäre Versorgung unterstellt, obwohl dafür keine Anhaltspunkte gegeben sind, sollte Widerspruch eingelegt werden.

Grundsätzlich kommt für Menschen in besonderen Wohnformen Verhinderungspflege nicht in Betracht, weil sie nicht häuslich gepflegt werden.

Was gilt aber, wenn pflegebedürftige Menschen, die normalerweise in einer besonderen Wohnform leben, eine Zeit lang zuhause z. B. bei den Eltern oder Geschwistern verbringen und diese als Pflegeperson ausfallen? Kommt in solchen Fällen die Verhinderungspflege in Betracht?

Jahrelang haben die Pflegekassen die Verhinderungspflege in Situationen wie der oben beschriebenen bewilligt, aber zunehmend wird diese Leistung in solchen Fällen abgelehnt.

Leider folgen die Gerichte diesem Trend: Das Gesetz verlange, daß die Verhinderungspflege "notwendig" sei. Bei dem Ausfall der (häuslichen) Pflegeperson könne der pflegebedürftige Mensch eben dorthin zurückkehren, wo er normalerweise auch gepflegt werde (eben in die besondere Wohnform; allerdings ist die diesbzgl. Entscheidung des Bundessozialgerichts von 2002 (B 3 P 2/02 R).

Gegen die Ablehnung der Verhinderungspflege sollten Sie dennoch Widerspruch einlegen. Manchmal kommt es dann wenigstens zu einer positiven "Kulanzentscheidung".

Außerdem kann es im konkreten Einzelfall so sein, daß die Ersatzpflege doch notwendig ist:

- Möglicherweise ist der Weg vom Elternhaus zurück in die besondere Wohnform besonders weit, für den Bewohner nicht zu bewältigen und etwaige Mobilitätshilfen nicht kurzfristig zu bekommen?

- Vielleicht hat die besondere Wohnform nur bestimmte Öffnungszeiten?

- Ist die betreffende Person evtl. für einen längeren Zeitraum abgemeldet und wegen der Beschäftigung der übrigen Bewohner in einer WfbM wäre nun tagsüber niemand da, der sich um den pflegebedürftigen Menschen zu kümmern könnte.

Es lohnt sich immer, gegen eine ablehnende Erstentscheidung Widerspruch einzulegen. Falls es bei der Ablehnung der Pflegekasse bleibt und die Verhinderungspflege für eine Ferienfreizeit genutzt werden sollte, können Sie einen Teil der Reisekosten möglicherweise als Leistung der Eingliederungshilfe bekommen. Die Gerichte entscheiden bislang unterschiedlich dazu. Eine günstige Entscheidung ist die des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 17.08.2016 – Az. L 9 SO 15/12). Die Ausführungen dort sind immer noch relevant, auch wenn sie zu der "alten Eingliederungshilfe" (bis 31.12.2019) ergangen sind. Was Teilhabe angeht, so sollte gerade die soziale Teilhabe großzügiger gehandhabt werden als bisher. Es wird schwer werden, diese Ansicht durchzusetzen; gerade in Zeiten knapper Kassen. Ich kann nur jedem raten, am Ball zu bleiben und einen langen Atem zu haben. Gerne können Sie mich hierzu zu Rate ziehen!


Rechtstipp aus den Rechtsgebieten

Artikel teilen:


Sie haben Fragen? Jetzt Kontakt aufnehmen!

Weitere Rechtstipps von Rechtsanwältin Marianne Schörnig

Beiträge zum Thema