Alleinige Haftung des eigentlich Vorfahrtsberechtigten bei mehr als 100 km/h in der Innenstadt

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Heute stelle ich einen aktuellen Fall vor, den das Kammerbericht Berlin zu entscheiden hatte (KG, Urteil vom 22.08.2019 – 22 U 33/18).

Gemäß § 17 StVG hängt in dem Fall, dass ein Schaden durch mehrere Kraftfahrzeuge verursacht wird, die quotale Haftung der Verkehrsteilnehmer untereinander von den Umständen ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Die Verpflichtung eines Teils ist erst dann ausgeschlossen, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wird. Ein Ereignis gilt als unabwendbar, wenn Halter und Führer eines Fahrzeugs jede gebotene Sorgfalt beachtet haben. Der Gesetzgeber stellt sich hier den so genannten „Idealfahrer“ vor.

Der Fall

Die Parteien des Rechtsstreits hatten im Jahr 2015 innerorts in Berlin einen Verkehrsunfall. Der Kläger hatte gegenüber dem aus der Gegenrichtung kommenden und links abbiegenden Beklagten Vorfahrt, als es zur Kollision kam. Das Gericht vernahm Zeugen und ließ durch einen Sachverständigen den Unfall rekonstruieren. Der Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass sich das Fahrzeug des Klägers zum Zeitpunkt der Kollision mit einer Geschwindigkeit zwischen 85 km/h und 105 km/h bewegte. Der Kläger hatte sich der Unfallstelle mit einer Geschwindigkeit von mindestens 103 km/genähert. Das Fahrzeug des Beklagten hatte eine Geschwindigkeit von unter 10 km/h. Der Kläger verlangte Schmerzensgeld infolge erlittener Verletzungen.

Das Urteil

Sowohl das Landgericht als auch das Kammergericht wiesen die Klage ab.

Obwohl eine Sorgfaltspflichtverletzung des Beklagten beim Linksabbiegen vorlag, führte dies nicht zu seiner (Mit-)Haftung. Sowohl der Verkehrsverstoß des Beklagten als auch die durch das Inverkehrbringen des Kraftfahrzeugs bedingte Betriebsgefahr stünden hinter dem besonders schweren Verkehrsverstoß des Klägers zurück, wodurch dieser alleine für seinen Schaden einzustehen hätte.

In Fällen, in denen innerorts das Doppelte der maximal zulässigen Geschwindigkeit überschritten wird und die tatsächlich gefahrene Geschwindigkeit gleichzeitig absolut 100 km/h überschreitet, sei regelmäßig davon auszugehen, dass leichte Verkehrsverstöße Dritter vollständig zurücktreten.

Das Kammergericht gewährt dem Wartepflichtigen zwar kein allgemein berechtigtes Vertrauen darauf, dass der Bevorrechtigte die Geschwindigkeit nicht in grober und außergewöhnlicher Weise überschreiten würde; bei der Abwägung nach § 17 Abs. 1 StVG sei aber regelmäßig von einer Alleinhaftung des Bevorrechtigten auszugehen, wenn dieser sowohl die maximal zulässige Geschwindigkeit um das Doppelte und gleichzeitig absolut 100 km/h überschreite.

Als Begründung sieht das Kammergericht die komplexen Verkehrsgeschehen in Innenstädten. Bei einer Geschwindigkeit von mehr als 100 km/h sei davon auszugehen, dass sich der Fahrer bewusst außerstande setze, unfallverhütend zu reagieren, wodurch für ihn keine hinreichende Möglichkeit mehr bestünde, gegebenenfalls auf das Fehlverhalten Dritter zu reagieren. Es bestünde bei einer derart hohen Geschwindigkeit auch überhaupt keine zeitliche und räumliche Möglichkeit, auf unvorhersehbares Verhalten Dritter angemessen zu reagieren.

Hinweis

Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung aus Berlin, die eine Ursächlichkeit des Vorfahrtsverstoßes des Beklagten für den Unfall vollkommen negiert. Andere Gerichte haben in vergleichbaren Konstellationen eine Abwägung der Verursachungsanteile vorgenommen und nur dann eine Alleinhaftung des Vorfahrtsberechtigten angenommen, wenn eine Geschwindigkeitsüberschreitung von mehr als 100 % mit weiteren, besonderen Umständen zusammentraf.


Rechtstipp aus den Rechtsgebieten

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