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Begutachtungsverfahren in Frankreich: Das kontradiktorische Prinzip, ein Hebel im Interesse der Streitparteien

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Das Prinzip des kontradiktorischen Verfahrens ist in jedem Rechtssystem verankert, es ist sogar der grundlegende Punkt darin.


Die Rechtsprechung des EGMR ist eindeutig: Die "prozessualen Grundrechte", die sich in dem in Artikel 6 § 1 der EMRK verankerten Begriff des "fairen Verfahrens" niederschlagen, gelten auch für das gerichtliche Gutachten. Dies bedeutet, dass der Grundsatz der Waffengleichheit, der auch das kontradiktorische Verfahren umfasst, eingehalten werden muss.

Der Bericht eines Sachverständigen, der die Entscheidung der Richter maßgeblich beeinflusst, muss daher von den Parteien nicht nur nach seiner Einreichung, sondern bereits während seiner Erstellung diskutiert werden.

Die französischen Gerichte verlangen auch, dass der Ablauf des gerichtlichen Gutachtens einen kontradiktorischen Charakter aufweist.

So erinnert die Rechtsprechung auf der Grundlage der Artikel 16 und 160 der frz. Zivilprozessordnung regelmäßig daran, dass der Sachverständige die Parteien zu den Gutachtenvorgängen einladen und ihnen den Inhalt der Dokumente, auf die er sich stützt, vorlegen muss, um sie in die Lage zu versetzen, diese kontradiktorisch zu erörtern.



Dieser Grundsatz kennt zwar einige Einschränkungen, insbesondere bei der Bewertung gesellschaftlicher Rechte oder bei Managementgutachten und vor allem bei medizinischen Gutachten, bei denen die ärztliche Schweigepflicht Vorrang vor dem kontradiktorischen Verfahren hat. Im frz. Verfahren kommt er jedoch sehr ausgeprägt zum Ausdruck und die Nichteinhaltung der sich daraus ergebenden Anforderungen kann zur Nichtigkeit des Gutachtens führen.

Deshalb ist es für den Sachverständigen und für die Parteien, die das Gutachten im Laufe einer gerichtlichen Instanz vorlegen müssen, von größter Bedeutung, auf die Einhaltung dieses Grundsatzes zu achten.


Im Rahmen des Gutachtens haben die Parteien die Möglichkeit, mit dem Sachverständigen über ein Schriftstück zu kommunizieren, das als "Dire" bezeichnet wird.

Die frz. Zivilprozessordnung erwähnt diese sogenannten "dires" der Parteien mit keinem Wort. Stattdessen ist in Artikel 276 die Rede von den Stellungnahmen der Parteien, die der Sachverständige berücksichtigen muss.

Diese Stellungnahmen werden in Frankreich gemeinhin als "Dire" bezeichnet.

Ein "dire" sollte nicht nur die Präsenz bei den laufenden Vorgängen zum Ausdruck bringen, sondern einen echten Diskussionsbeitrag für den Sachverständigen darstellen.

Es muss sich im Wesentlichen um Anmerkungen oder Ratschläge handeln, die den Bereich der unternommenen technischen Untersuchung bereichern.


In Fällen, in denen einige Parteien verspätet zum Gutachten hinzugezogen werden und daher nicht die materielle Möglichkeit hatten, an allen Vorgängen teilzunehmen, kann es für die Wahrung des Grundsatzes der Widersprüchlichkeit ausreichend sein, wenn der Sachverständige alle Parteien zu einer Sitzung einlädt, sie über den Ablauf der Gutachtenvorgänge informiert und sie gleichzeitig aufgefordert hat, vor der Einreichung des Gutachtens zusätzliche Anmerkungen zu machen oder Ergänzungen des Gutachtens zu beantragen.


Genau daran fehlt es manchmal im Ablauf des Sachverständigenverfahrens in anderen Mitgliedstaaten. So ist der Sachverständige im deutschen Gerichtsgutachten zwar verpflichtet, die Parteien zu laden, sobald er sich an Ort und Stelle begibt, er ist jedoch nicht verpflichtet, auf ihre (möglichen) Stellungnahmen zu antworten oder sie vor der Einreichung des Gutachtens über den Verlauf seiner Arbeiten zu informieren. Er kann also von einer der Parteien die zu begutachtenden Elemente erhalten, sie Analysen unterziehen, die er nicht vorher mit den Parteien besprochen hat, und dann seinen Bericht auf der Grundlage seiner Analysen einreichen, ohne die Parteien davon in Kenntnis gesetzt zu haben.


Dennoch wurde dieser Ablauf unseres Wissens bislang nicht vor dem EGMR angegriffen oder wegen mangelnder Beachtung des kontradiktorischen Verfahrens für ungültig erklärt. Tatsächlich gibt es im deutschen Verfahren eine Phase des kontradiktorischen Verfahrens, die zwar erst nach der Einreichung des Gutachtens stattfindet, aber noch Anlass zu einer Änderung des Wortlauts geben kann: Die Parteien können beim Gericht beantragen, den Sachverständigen zu einer Anhörung vorzuladen, in der dieser die von den Parteien vorgelegten Fragen beantworten muss. Dieses Recht ist in der Zivilprozessordnung (§ 402 und § 397 ZPO), aber auch indirekt im deutschen Grundgesetz (Art. 103 Abs. 1 GG) verankert.

Bei einem Gutachten in Frankreich müssen die beteiligten Parteien folglich ständig und nachhaltig daran teilnehmen und dürfen nicht bis zum Ende des Gutachtens warten.

Sobald das Gutachten des Sachverständigen eingereicht wird, ist es im Gegensatz zu Deutschland oft schon zu spät.

Foto(s): frei


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