Berufsunfähigkeit im Prozess – aktueller BGH-Beschluss vom 30.04.2019 (IV ZR 124/18) Teil 2
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Im ersten Teil wurden die Ausführung des Gerichtes zusammengefasst. Im Folgenden wird der weitere Hintergrund zu der BGH-Entscheidung sowie zu dem OLG Celle Urteil erläutert:
Wie sieht die Grundkonstellation aus? Wann kann also eine Versicherung einmal gewährte Leistungen wieder einstellen?
Im Normalfall ist dieses Nachprüfungsverfahren, welches in den Versicherungsbedingungen festgeschrieben ist, dafür gedacht, dass eine Versicherung überprüft, ob eine einmal von ihr anerkannte Berufsunfähigkeit noch fortbesteht, ob also der Versicherungsnehmer wieder gesund ist und seiner Berufstätigkeit wieder nachgehen kann.
Dann muss die Versicherung dem Versicherungsnehmer beweisen, dass er wieder leistungsfähig ist. Dazu muss die Versicherung im Regelfall dem Versicherungsnehmer genau nachweisen, worin genau seine gesundheitliche Besserung besteht, was in der Regel mit ärztlichen Berichten und Gutachten erfolgt und einer ausführlichen Darstellung, weshalb der Versicherungsnehmer der beruflichen Tätigkeit wieder zu mehr als 50 % nachzugehen in der Lage ist.
Besonderheiten im Prozess um eine Berufsunfähigkeit:
Das Besondere an der Prozesssituation ist aber, dass eine Versicherung ja eine Leistung nie anerkannt hatte. Die Versicherung erklärt, dass der Versicherungsnehmer nicht berufsunfähig ist. Soweit der Versicherungsnehmer nunmehr hiergegen klagt, gibt es folgende Möglichkeiten:
1. Die Berufsunfähigkeit wird zu keinem Zeitpunkt nachgewiesen.
Folge: keine Leistung
2. Der Sachverständige bestätigt die Berufsunfähigkeit auch noch zum Zeitpunkt der Begutachtung:
Der Versicherungsnehmer erhält Leistungen für die Vergangenheit seit dem Beginn der Berufsunfähigkeit und dauerhaft für die Zukunft. Mit dem Urteil durch das Gericht wird das Anerkenntnis dann gerichtlich bestimmt (fingiert). Die Versicherung kann dann in der Zukunft, außerhalb des Gerichtsverfahrens, die Berufsunfähigkeit wieder überprüfen (Nachprüfungsverfahren s. o.),
3. Der Sachverständige bestätigt die Berufsunfähigkeit von Beginn an, aber sieht diese aus jetziger Perspektive inzwischen wieder als beendet an. Das ist die hier einschlägige, seitens des OLG Celle (8 U 250/17) und des BGH (IV ZR 124/18) beurteilte Konstellation. Dann muss die Versicherung ebenfalls so lange bezahlen, bis das Nachprüfungsverfahren durchgeführt wurde, was allerdings auch im Prozess noch geschehen kann.
Da die Versicherung vorprozessual nie anerkannt hatte, hatte sie folgerichtig keinen Anlass, (bisher) ein Nachprüfungsverfahren durchzuführen. Das Gegenüberstellen einer Vorher- und Nachhersituation (Zeitpunkt der Berufsunfähigkeit und Zeitpunkt der Wiedergenesung, welches sie formell gegenüberstellen muss) dürfte ihr auch in diesem Sinne nicht möglich sein, weil eine Berufsunfähigkeit durch die Versicherung nie festgestellt wurde. Daher wird es in der Regel darauf ankommen, dass sich die Versicherung auf das gerichtlich eingeholte Sachverständigengutachten beruft, welches einerseits die Berufsunfähigkeit bestätigte, aber andererseits wiederum deren Ende belegt.
Dieses formelle Berufen auf die Beendigung der Berufsunfähigkeit wird in der Regel aber nur mit diesem Gutachten möglich sein.
Beispielfall:
Dabei sind Konstellationen denkbar, wonach eine Berufsunfähigkeit gegebenenfalls vor 4 Jahren (z. B. 01.05.2015) auftrat und nach Auffassung des Sachverständigen vor 3 Jahren (z. B. 30.04.2016) wieder beendet war. Die Klage wurde vor 2 Jahren eingelegt (z. B. 01.05.2017). Die Parteien haben sich über weitere Punkte gestritten (z. B. Fortbestehen des Versicherungsvertrages, Ausmaß des Berufsbildes) und die Begutachtung hat ein 3/4 Jahr angedauert. 4 Jahre nach Beginn der Berufsunfähigkeit wird dann ein Sachverständigengutachten im Gericht präsentiert, wonach die Berufsunfähigkeit seit 3 Jahren wieder beendet sei, also für 1 Jahr (also vom 01.05.2015 - 30.04.2016) bestanden hat. Mit dem Gutachten beruft sich jetzt die Versicherung hierauf und erklärt, die Berufsunfähigkeit sei vor 3 Jahren wieder beendet gewesen und es wäre nur für das eine Jahr der Berufsunfähigkeit zu bezahlen.
Das ist aber nach den vorgenannten Entscheidungen – wie vom Fachanwalt für Versicherungsrecht und Medizinrecht Rechtsanwalt Klatt bereits erstinstanzlich argumentiert – unrichtig.
Die Versicherung muss (mindestens) für die gesamten 4 Jahre (also auch über den 30.04.2016 hinaus) Leistungen erbringen, soweit sich nämlich die Versicherung dann auch tatsächlich in dem Prozess auf dieses Gutachten beruft und erklärt (zumindest hilfsweise), dass die BU-Leistung nunmehr auch wieder beendet sei. In diesem Beispiel würde der Kläger/Versicherungsnehmer, obwohl er aus medizinischen Gründen nur ein Jahr berufsunfähig war, für 4 Jahre Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung erhalten.
Bewertung:
Dieses Ergebnis resultiert daraus, weil der Versicherer in seinen Versicherungsbedingungen verspricht, dass er so lange bezahlt, bis er in einem Nachprüfungsverfahren das Gegenteil der Berufsunfähigkeit wieder belegt. An einem solchen Versprechen muss der Versicherer auch festgehalten werden.
Hat ein gerichtlicher Sachverständiger einmal die Berufsunfähigkeit im Prozess bestätigt, wird das Anerkenntnis, welches die Versicherung normalerweise außergerichtlich abgibt, durch das Gericht ersetzt/fingiert.
Dieses Anerkenntnis vermittelt dem Versicherungsnehmer eine Schutzfunktion, dass Berufsunfähigkeits-Leistungen so lange zu zahlen sind, bis das Nachprüfungsverfahren die Berufsfähigkeit wieder nachweist. Somit besteht die Situation, dass die Nachprüfung zwingend – auch im Prozess – durchzuführen ist, um die Berufsunfähigkeitsrente wieder einstellen zu können, und zwar erst ab diesem Zeitpunkt.
Eine wesentliche Konsequenz aus dieser Entscheidung sollte es aber sein, dass die Versicherungen sich sehr wohl überlegen, ob sie die Leistungsanträge von Versicherungsnehmern vorschnell zurückweisen. Das Resultat könnte sein, dass Leistungen zu bezahlen sind, obwohl lange keine medizinische Berufsunfähigkeit mehr besteht. Insbesondere deshalb ist die Entscheidung zu begrüßen, um einer leichtfertigen Anspruchsversagung zu begegnen, weil der Versicherer das Risiko trägt, nicht nur im Prozess zu verlieren, sondern zudem bei vorübergehenden Berufsunfähigkeiten zusätzliche Leistungen bis zum Nachprüfungsverfahren erbringen muss.
Die Entscheidung ist gerecht für Versicherungsnehmer, weil die Versicherung verspricht, dass sie so lange bezahlt, bis sie mit einem Nachprüfungsverfahren beweist, dass bei einmal feststehender Berufsunfähigkeit, diese wieder entfallen ist.
Uwe Klatt
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Versicherungsrecht und Medizinrecht
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