Der Zeuge im Prozess – was zu tun ist er verpflichtet, was zu unterlassen berechtigt?

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1. Geschichtliches und aktuelle Gesetzeslage 06.2018

Die vor der Reichsstrafprozessordnung hierzulande existente „peinliche Halsgerichtsordnung Kaiser Karls des Fünften“ (Constitutio Criminalis Carolina) von 1555 regelte in den Art. 28 CCC im Niederdeutschen „zweier Zeugen Mund tut Wahrheit kund".

Unsere anno 1871 mit anderen Reichsjustizgesetzen erlassene Strafprozessordnung (StPO) spricht wie selbstverständlich vom Zeugen, ohne aber seine konkrete Stellung im Prozess näher erläutert zu haben. Ähnlich wie die Existenz vom Schöffen, der als Laienrichter an einer kollegialgerichtlichen Entscheidung mitwirkt, setzten die Gesetzesväter den Zeugen dem Prozess einfach voraus.

Das Reichsgericht definierte den Zeugen als persönliches Beweismittel und damit eine natürliche Beweisperson, die in einem nicht gegen sie geführten Strafverfahren Auskunft über die Wahrnehmung von Tatsachen gibt (RG 52, 289).

Es galt die Zeugenpflicht als deutsche Bürgerpflicht, ähnlich der Wahlpflicht oder der Teilnahme an Zwangsfeuerwehr in ländlichen Gebieten bei entsprechender Gesetzeslage des jeweiligen Landes.

Die heutige StPO regelt in § 48 StPO, dass ein Zeuge zur Vernehmung erscheinen, wahrheitsgemäß aussagen muss und seine Aussage auf Verlangen zu beeiden ist. Unterlässt ein Zeuge seine Pflicht kann ihm nach § 70 StPO Ordnungsgeld auferlegt und für den Fall, dass dieses nicht beigetrieben werden kann, Ordnungshaft festgelegt werden. Bei Erscheinungspflicht nach staatsanwaltlicher Verfügung (seit 2017) muss der Zeuge bei der Polizei „zur Sache“ aussagen. Ein Erscheinen des Zeugen ohne Aussage zu tätigen, kann mit einem Strafverfahren wegen Strafvereitelung nach § 258 StGB verfolgt werden.

Wer nicht aussagen soll, sondern „nur“ für eine etwaige Wiedererkennung in Augenschein genommen wird, ist nicht Zeuge. Als Zeuge aber muss man ggf. an Gegenüberstellungen teilnehmen (§ 58 Abs. 2 StPO).

Der Zeuge hat die in den §§ 52, 53, 55 StPO verankerten Aussageverweigerungsrechte, wenn er mit seiner Aussage Familie oder als Berufsgeheimnisträger seine Mandanten / Patienten o. Ä. belasten oder sich mit seiner Aussage selbst der Gefahr einer Straftat oder Ordnungswidrigkeiten aussetzen würde.

Durch die §§ 395 StPO kann er sich beim Vorliegen anschlussfähiger Delikte dem Strafprozess als Nebenkläger anschließen und sich anwaltlich von einem ggf. nach §§ 397 ff. StPO beizuordnenden Nebenklagevertreter im Prozess vertreten lassen und kann sogar nach den §§ 404 StPO Adhäsionsklage betreiben, also erlittenen Schadensersatz und Schmerzensgeld vom Angeklagten des Strafprozesses verlangen.

2. Kritische Sicht auf den Zeugen durch Strafverteidigung 

Seitdem das Mittelalter (Constitutio) überwunden ist, gilt dem Strafprozess der Zeugenbeweis als schlechtester Beweis.

Dies liegt zunächst einmal daran, dass die situative sprachliche Wiedergabe von erlebten (oder nicht erlebten?!) Vorgängen im Leben eines Menschen bei Befragung vor einem Strafgericht eine geistig komplexe wie körperlich anstrengende Angelegenheit ist. Sprachliche Fähigkeiten, Erinnerungsvermögen, Fähigkeit des Nachvollziehens (häufig lange zurückliegend) der Geschehnisse und Konzentrationsfähigkeit sind dabei Kompetenzen der intellektuellen Fähigkeiten des einzelnen Zeugen, auf welche moderat durch die Beteiligtem im Strafprozess (Gericht, Staatsanwaltschaft, Verteidigung) zu reagieren ist.

Auf einen Menschen, der (bei Kleinkriminalität häufig das erste Mal) als Zeuge vor Gericht steht, kann unter Anwendung entsprechender Fragetaktik und Suggestion des Verteidigers verschiedentlich auf dessen Aussageverhalten eingewirkt, d. h. Widersprüche entwickelt, Formfehler aufgedeckt und Belastungstendenzen herausgearbeitet werden.  

Dies kann bis hin zu der Folge gehen, dass der gesamte Beweiswert einer Aussage nach Befragung des Zeugen als nichtig, damit die Anklagepunkte nicht tragend erklärt und das Gericht seine Verurteilung auf ihn nicht wird stützen können. Für die dann noch aus einer Tat möglicherweise verbleibenden dubiosen und ungeklärten Umstände streitet zugunsten des Mandanten der Prozessgrundsatz „in dubio pro reo“, d. h. alle ungeklärten Einzelheiten des Geschehens gehen bei Zweifeln immer zugunsten des Angeklagten aus. Die Vernehmung eines (Belastungs)-Zeugen dürfte folglich zum Kerngeschäft des Strafverteidigers zählen.

Der Freispruch von allen Vorwürfen als anwaltliches „Best-Case-Szenario“ und Ergebnis gut vorbereiteter Verteidigerarbeit dürfte sich häufig also da realisieren, wo prozessual Aussage-gegen Aussage aufeinanderprallen (Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, sonstige Gewaltdelikte), da „nur“ ein Belastungszeuge zugegen war.

Der Umgang mit oben angesprochener Zeugenproblematik sollte stets kritisch sein, da es empirischen Untersuchungen dafür ermangelt, wann konkret ein Zeuge die Wahrheit sagt oder wann eben nicht. Dies ist beachtlich, denn „die Wahrheit“ als Eindruck von persönlich Erlebtem ist immer subjektiv gefärbt. Auch der prozessuale Wahrheitsbegriff als Aufgabe des Gerichts im Erkenntnisverfahren ist nur eine These, die unter Anwendung prozessual statthafter Mittel versucht, einen Sachverhalt, wie er sich möglicherweise abgespielt haben könnte, doch wenigstens einigermaßen tauglich nachzuvollziehen.

Dennoch gilt: Der Zeuge als (vermeintlich) Geschädigter einer Tat steht häufig im Zentrum eins Strafverfahrens, sein Motiv bildet sogar den Ursprung strafrechtlicher Ermittlungen, da mit seiner Erstattung einer Strafanzeige bei der Polizei oder im Internet und/oder Stellen eines Strafantrags (Motiv: Rache?) überhaupt ein Verfahren entsteht und man zum Beschuldigten wird. Mit ihm kann ein Strafverfahren stehen, aber auch fallen.

Durch effektive Verteidigung muss sich folglich zur Bewertung der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage und zur Glaubwürdigkeit seiner Zeugenperson mit wissenschaftlichen Hilfsmitteln, wie etwa der Nullhypothese („Alles was der Zeuge berichtet, trifft nicht zu, der Wahrheitsgehalt der Aussage muss sich im Rahmen seiner Vernehmung erst herausstellen“) gearbeitet werden und auch die sonstige komplette Klaviatur der beim Zeugen vorherrschenden Wahrnehmungsmuster bei entsprechenden Strafvorwürfen beherrscht werden.


Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

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