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Eigene Sachkunde des Gerichts vs. SV-Gutachten im Geburtsschadenprozeß

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Im Rahmen eines Geburtsschadensprozesses kommt es immer auch auf die medizinische Beurteilung des Behandlungsgeschehens vor, während und nach der Geburt an.

Das Gericht hat prozessual gesehen grundsätzlich theoretisch die (eingeschränkte) Möglichkeit aufgrund eigener Sachkunde auf die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu verzichten, wenn es um die Beurteilung einer Frage geht, die Fachwissen voraussetzt. 

Aufgrund der i.d.R. erforderlichen medizinischen Sachkunde ist dies im Medizinrecht jedoch eher selten möglich.

Folgende Fallkonstellation wären denkbar:

  • Da sich der Richter selbst aufgrund eines zugleich abgeschlossenen Medizinstudiums für kompetent genug hält, die entscheidungserheblichen medizinischen Fragen zu beantworten, verzichtet er im Arzthaftungsprozess einfach auf die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens.

In einem solchen Fall liegt rglm. ein Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör der Partei, die die Einholung eines Sachverständigengutachtens beantragte, vor.

Die eigene Sachkunde des Gerichts kann nämlich nur bei vergleichsweise einfachen Geschehensabläufen nur dann die Einholung eines Sachverständigengutachtens überflüssig machen, wenn die Sachkunde den Parteien bekannt ist und im Urteil im Einzelnen dargelegt wird.

Bei der Beurteilung medizinischer Sachverhalte, umso mehr bei Geburtsschäden, ist dies selten der Fall. Ob es die eigene Sachkunde für ausreichend erachtet, ist zwar grundsätzlich dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts überlassen, es erfordert jedoch regelmäßig spezieller Sachkunde und wird nicht schon durch die Kenntnis allgemeiner Erfahrungssätze ermöglicht, die sich das Gericht in anderen Verfahren oder aus vorgelegten schriftlichen Gutachten angeeignet haben mag. Diese Sachkunde übersteigt gemeinhin das zuzumutende Laienwissen und setzt stets die sachkundige Berücksichtigung der aus medizinischer Sicht maßgeblichen Umstände des konkreten Einzelfalles voraus.

„Nicht umsonst haben medizinische Gutachter (meist Fachärzte) jahrelanges Studium und vor allem jahrelange Praxis im Medizinwesen hinter sich.”

Die aus anderen gerichtlichen Prozessen und durch in diesen möglicherweise erstatteten Gutachten erlangte medizinischen Kenntnisse des Gerichts, sind nicht verallgemeinerungsfähig und dagegen notwendig bruchstückhaft auf den jeweils zur Entscheidung gestellten Einzelfall ausgerichtet. 

Für die Begründung der erforderlichen Sachkunde des Gerichts sind solche Kenntnisse aus einem anderen Fall i. d. R. nicht geeignet. 

Für die persönliche Befragung des Gutachters ist es zwar hilfreich, wenn das Gericht über derartige Sachkenntnisse verfügt (vgl. § 139 Abs. 1 ZPO), um jedoch Entscheidungen medizinischer Fragen aus eigenem Wissen zu treffen, reichen diese Kenntnisse wegen der im jeweiligen Einzelfall zu berücksichtigenden Besonderheiten nicht aus.

  • Nur, wenn der medizinisch geschulte Richter ausführt, aufgrund welcher genauen eigenen Sachkunde (Medizinstudium? praktische Erfahrung im Medizinwesen?) die beantragte Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens unterblieben ist und er dies detailliert im Einzelnen ausführt, kann dies gelten.

Auch in solchen Fällen wird es aber rglm. zu einer Zurückverweisung durch das Berufungsgericht kommen, da dann vom Berufungsgericht zumeist von einem Verfahrensfehler ausgegangen wird.

Es bedarf natürlich einer noch detaillierteren Begründung, wenn sich das Gericht aufgrund eigener Sachkunde sogar über das Ergebnis eines eingeholten Sachverständigengutachtens hinwegsetzen möchte. 

vgl. folgende Rechtsprechung hierzu:

Vor allem im Interesse sachgerechter Fragestellung im Zeugen- und Sachverständigenbeweis, soll sich der Richter durch Heranziehung medizinischer Fachliteratur eigene Sachkunde verschaffen, sich jedoch nicht mit der Inanspruchnahme eigener Sachkunde übernehmen. Der Richter muss zunächst den Parteien in einem Hinweis vorbringen und in einem Urteil darlegen und ersichtlich machen, wenn er medizinische Sachverhalte aus eigenem Wissen beurteilen oder vom Gutachten eines medizinischen Sachverständigen abweichen will. Das Studium einschlägiger Fachliteratur kann dem medizinischen Laien nur bruchstückhafte Kenntnisse vermitteln, sodass der Hinweis auf medizinische Fachliteratur die Sachkunde des Gerichts nicht ausreichend begründet. Um jedoch ärztliche Gutachten – wie geboten – kritisch überprüfen zu können, ist ein solches „Selbststudium” sehr wohl geboten

– BGH, Urt. v. 13. 1. 2011 – III ZR 146/10 – NJW 2011, 1509

– BGH, Urt. v. 17. 10. 2001 – IV ZR 205/00 – NJW-RR 2002, 166 = VersR 2001, 1547

– BGH, Urt. v. 10. 5. 1994 – VI ZR 129/93 – NJW 1994, 2419 = VersR 1994, 984

Wegen ihrer generalisierenden Natur kann ein (immer die individuellen Umstände des Patienten berücksichtigendes) Sachverständigengutachten auch keinesfalls durch vermeintlich „passende” Leitlinien ersetzt werden.

Es grüßen Sie herzlich

Ihr RA Florian Höbel, sowie Ihr RA Michael Graf, Fachanwalt für Medizinrecht und Versicherungsrecht, aus der Kanzlei ANWALTGRAF in Freiburg



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