Entgeltfortzahlung bei Krankheit: Grenzen des Beweiswerts der AU-Bescheinigung (BAG-Urteil 5 AZR 29/24)
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Sachverhalt
In dem vorliegenden Fall ging es um einen Dozenten in der Erwachsenenbildung, der bei seinem bisherigen Arbeitgeber zum Monatsende kündigte und anschließend eine durchgehende Arbeitsunfähigkeit für die gesamte Kündigungsfrist bescheinigt bekam. Direkt nach Ablauf dieser Frist nahm er eine neue Beschäftigung bei einem Konkurrenzunternehmen auf.
Die Beklagte, seine frühere Arbeitgeberin, verweigerte die Entgeltfortzahlung für den letzten Beschäftigungsmonat mit der Begründung, dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttert sei. Sie führte an, dass:
- die Arbeitsunfähigkeit exakt mit der Kündigungsfrist übereinstimmte,
- der Kläger während der Krankschreibung geschäftliche Kontakte zu Kunden aufgenommen habe, um diese für seinen neuen Arbeitgeber abzuwerben,
- eine Kollegin mit paralleler Kündigung ebenfalls exakt im Kündigungszeitraum krankgeschrieben war.
Während das Arbeitsgericht und das Landesarbeitsgericht dem Kläger noch Recht gaben, hob das Bundesarbeitsgericht das Urteil des LAG Mecklenburg-Vorpommern auf und verwies die Sache zur erneuten Verhandlung zurück.
Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) entschied am 18. September 2024, dass das Landesarbeitsgericht den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht hinreichend geprüft habe. Es betonte mehrere wesentliche Punkte:
1. Zeitliche Koinzidenz als Indiz für eine Erschütterung des Beweiswerts
Das BAG stellte klar, dass eine Arbeitsunfähigkeit, die genau mit der Kündigungsfrist zusammenfällt, als Indiz für eine Erschütterung des Beweiswerts der AU-Bescheinigung dienen kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Krankschreibung den gesamten Zeitraum bis zum letzten Arbeitstag umfasst und der Arbeitnehmer direkt im Anschluss eine neue Beschäftigung aufnimmt.
2. Beweiswert der AU-Bescheinigung ist widerlegbar
Die ärztliche Bescheinigung über die Arbeitsunfähigkeit stellt ein starkes Beweismittel dar, aber keine gesetzliche Vermutung im Sinne des § 292 ZPO. Der Arbeitgeber kann den Beweiswert durch erhebliche Indizien erschüttern.
3. Anforderungen an die Erschütterung des Beweiswerts
Das BAG führte aus, dass nicht nur eine parallel laufende Kündigung, sondern auch weitere Indizien (z. B. geschäftliche Aktivitäten während der Krankschreibung) als ausreichende Erschütterung des Beweiswerts gelten können.
4. Pflicht zur Darlegung konkreter Krankheitssymptome
Ist der Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttert, muss der Arbeitnehmer detaillierte Angaben zu seinen Krankheitssymptomen, deren Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit sowie die ärztlichen Behandlungsmethoden machen. Hierbei reicht eine allgemeine Beschreibung von Beschwerden nicht aus.
5. Fehlerhafte Beweiswürdigung durch das Landesarbeitsgericht
Das BAG rügte die Entscheidung des LAG insbesondere in zwei Punkten:
- Das Gericht hatte nicht hinreichend berücksichtigt, dass der Kläger bereits vor Ende seines bisherigen Arbeitsverhältnisses neue Kunden für seinen neuen Arbeitgeber angeworben haben soll.
- Zudem wurde nicht beachtet, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einen ungewöhnlich langen Zeitraum umfasste, der über die übliche Dauer einer psychischen Belastung hinausging.
Das BAG verwies den Fall daher zur erneuten Prüfung an das Landesarbeitsgericht zurück.
Praxishinweise für Arbeitgeber und Arbeitnehmer
1. Bedeutung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung
Die Entscheidung des BAG verdeutlicht, dass eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zwar ein wichtiges Beweismittel ist, aber nicht automatisch die Arbeitsunfähigkeit beweist, wenn erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Erkrankung bestehen.
2. Arbeitgeber sollten Indizien genau dokumentieren
Um den Beweiswert einer AU-Bescheinigung zu erschüttern, sollten Arbeitgeber konkrete Indizien sammeln, darunter:
- die exakte Dauer der Krankmeldung im Verhältnis zur Kündigungsfrist,
- mögliche konkurrierende Tätigkeiten des Mitarbeiters,
- Widersprüche zwischen den ärztlichen Attesten und dem Verhalten des Arbeitnehmers.
3. Arbeitnehmer müssen bei berechtigten Zweifeln konkret darlegen
Falls der Arbeitgeber den Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttert, müssen Arbeitnehmer substantiiert darlegen:
- welche konkreten Krankheitssymptome vorlagen,
- inwiefern diese die Arbeitsfähigkeit beeinträchtigten,
- welche Behandlungen oder ärztlichen Maßnahmen erfolgten.
4. Folgen für zukünftige Arbeitsrechtsstreitigkeiten
Dieses Urteil stärkt die Position von Arbeitgebern, indem es klarstellt, dass eine Krankmeldung, die exakt mit der Kündigungsfrist übereinstimmt, hinterfragt werden darf. Gleichzeitig verdeutlicht es die Anforderungen an Arbeitnehmer, ihre Krankheit detailliert zu belegen, wenn Zweifel an der AU-Bescheinigung bestehen.
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