Erfolgreiche Härtefallprüfung einer VBL-Startgutschrift für rentenferne Versicherte
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Zur Härtefallprüfung einer VBL-Startgutschrift für rentenferne Versicherte gem. § 242 BGB – Steuerklasse III/0 für einen zum Stichtag nur für kurze Zeit verwitweten Versicherten, dessen Erwerbsbiographie zuvor und danach ganz überwiegend vom Familienstand eines Verheirateten geprägt ist.
OLG Karlsruhe Urt. v. 30.7.2019 – 12 U 418/14
Sachverhalt
Der Kläger, vertreten durch Rechtsanwalt Christian Wagner, fordert von der beklagten Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) die Gewährung einer höheren Betriebsrente.
Der Kläger wurde 1947 geboren. Er war von 1973 bis 2012 ununterbrochen im öffentlichen Dienst beschäftigt und bei der Beklagten pflichtversichert. Bereits bei Eintritt in den öffentlichen Dienst war der Kläger verheiratet. Seine erste Ehefrau verstarb im Jahr 2000 infolge eines Krebsleidens. Seit 2002 ist er wieder verheiratet.
Mit Neufassung ihrer Satzung vom 22.11.2002 hat die Beklagte ihr Zusatzversorgungssystem rückwirkend zum 31.12.2001 umgestellt. Den Systemwechsel hatten die Tarifvertragsparteien des öffentlichen Dienstes im Tarifvertrag Altersversorgung vom 01.03.2002 (ATV) vereinbart.
Damit wurde das frühere – auf dem Versorgungstarifvertrag vom 04.11.1966 (Versorgungs-TV) beruhende – endgehaltsbezogene Gesamtversorgungssystem aufgegeben und durch ein auf einem Punktemodell beruhendes Betriebsrentensystem ersetzt.
Die neue Satzung der Beklagten (VBLS) enthält Übergangsregelungen zum Erhalt von bis zur Systemumstellung erworbenen Rentenanwartschaften. Diese werden wertmäßig festgestellt und als sogenannte Startgutschriften auf die neuen Versorgungskonten der Versicherten übertragen. Dabei werden Versicherte, deren Versorgungsfall noch nicht eingetreten ist, in rentennahe und rentenferne Versicherte unterschieden.
Rentennah ist grundsätzlich, wer am 01.01.2002 das 55. Lebensjahr vollendet hatte und im Tarifgebiet West beschäftigt war bzw. dem Umlagesatz des Abrechnungsverbandes West unterfiel oder Pflichtversicherungszeiten in der Zusatzversorgung vor dem 01.01.1997 vorweisen kann.
Die Anwartschaften der ca. 200.000 rentennahen Versicherten werden weitgehend nach dem alten Satzungsrecht ermittelt und übertragen. Der Kläger ist den rentenfernen Versicherten zuzuordnen.
Die Beklagte teilte dem Kläger mit, dass seine Startgutschrift zum 31.12.2001 93,30 Versorgungspunkte umfasse, was einer monatlichen Anwartschaft von 373,20 EUR entspricht.
Der Bundesgerichtshof billigte mit Urteil vom 14.11.2007 (IV ZR 74/06, BGHZ 174, 127) die Umstellung der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes von einem endgehaltsbezogenen Gesamtversorgungssystem zu einem auf dem Erwerb von Versorgungspunkten beruhenden Betriebsrentensystem und hielt die Neufassung der Satzung der Beklagten als solche für mit höherrangigem Recht vereinbar.
Die Übergangsregelung für rentenferne Pflichtversicherte wurde jedoch für unwirksam und die auf ihr beruhende Startgutschrift zweimal (BGH IV ZR 74/06 und BGH IV ZR 9/15 vom 09.03.2016) für unverbindlich erklärt. Die Tarifparteien änderten daraufhin am 30.05.2011 bzw. 08.06.2017 jeweils den ATV (5. und 10. Änderungstarifvertrag). Die Umsetzung in die VBLS erfolgte in der 17. bzw. 23. Satzungsänderung (SÄ).
Die Startgutschrift des Klägers wurde auf der Basis eines fiktiven Entgelts mit Steuerklasse I/0 (alleinstehend) berechnet, da er am Stichtag 31.12.2001 verwitwet war. Die Beklagte teilte dem Kläger nach der letzten Neuberechnung mit, die Überprüfung seiner Startgutschrift nach der neuesten Satzungsregelung ergebe eine Startgutschrift von 103,67 Versorgungspunkten, dies entspreche einer monatlichen Anwartschaft von 414,68 EUR.
Der Kläger bezieht seit dem 01.03.2012 eine Betriebsrente, welche unter anderem auf der von der Beklagten aufgrund der jeweiligen Satzungsfassungen ermittelten Startgutschrift beruht.
Die Parteien streiten darum, ob die zum Stichtag 31.12.2001 geltende Steuerklasse das Vertrauensschutzprinzip verletze. Der Kläger habe auf eine Nettoversorgung unter Berücksichtigung der Steuerklasse III/0 vertrauen dürfen.
Der Kläger habe aufgrund des Verheiratetenzuschlags sowohl während seiner ersten wie auch während seiner zweiten Ehe höhere Umlagen als ein Lediger bezahlt, die sich auch in einer höheren Rente niederschlagen müssten. Bei dem Kläger liege auch ein besonderer Härtefall vor, da er mit seiner tatsächlichen Betriebsrente im Vergleich zu derjenigen, die sich mit der Steuerklasse III/0 errechne, eine Einbuße von mehr als 30 % erleide und nur für insgesamt 2,33 Jahre unverheiratet gewesen sei.
Entscheidung
Die Revision des Klägers hatte Erfolg. Nach der Entscheidung des Gerichts ist die Beklagte dem Kläger gegenüber aus Billigkeitsgesichtspunkten gemäß § 242 BGB daran gehindert, sich auf die Stichtagsregelung des § 78 Abs. 2 VBLS im Hinblick auf den Familienstand des Klägers zum Stichtag zu berufen. Die Beklagte hat bei der Berechnung der Startgutschrift des Klägers die Steuerklasse III/0 zugrunde zu legen.
Nach Auffassung des Gerichts kann eine solche Härte aber nicht allein deshalb bejaht werden, weil ein Versicherter infolge der Übergangsregelung eine deutlich geringere Betriebsrente erhält als unter Anwendung des alten Satzungsrechts.
Hinzukommen müssen besondere Umstände, die die Einbuße als besondere Härte erscheinen lassen. Solche Umstände – etwa aus Besonderheiten in der Erwerbsbiografie des Versicherten – festzustellen, obliegt dem Tatrichter im jeweiligen Einzelfall. Dies gilt auch bei durch eine Familienstandsänderung bedingten erheblichen Renteneinbußen.
Bei der Prüfung des Vorliegens einer unangemessenen Härte ist zunächst festzustellen, ob sich bei dem Vergleich der tatsächlichen Betriebsrente mit der Rente, die ohne den Eingriff zu erwarten wäre, ein unverhältnismäßiger Nachteil ergibt (Senat, Urteil vom 05.06.2007 – 12 U 121/06 -, unter 2 d). Der Kläger akzeptiert die aktuelle Satzungsregelung zur Systemumstellung grundsätzlich. Er macht allerdings geltend, die Anwendung der Stichtagsregelung sei in seinem Falle treuwidrig.
Bei dem Kläger liegen auch in seiner Erwerbsbiografie begründete außergewöhnliche Umstände vor, die über die im Rahmen einer zulässigen Stichtagsregelung hinzunehmenden Härten hinausgehen.
Der Senat hat in der Vergangenheit einen besonderen Umstand bei einem rentennahen Versicherten dann angenommen, wenn die Betriebsrente nach den am 31. Dezember 2001 geltenden steuerlichen Verhältnissen berechnet worden ist, obwohl diese nicht denjenigen Verhältnissen entsprechen, die die Biografie des Versicherten geprägt hatten (Senat, Urteil vom 27. Juli 2010, 12 U 202/09).
Dies sei dann der Fall, wenn der Versicherte in einem weniger als 3 Jahre dauernden Zeitraum über den Stichtag hinweg nicht verheiratet war (Senat aaO). Die Betrachtung anhand abstrakter Kriterien – Einbuße über 30 Prozent und weniger als 3 Jahre einschließlich des Stichtages nicht verheiratet – hat der Bundesgerichtshof allerdings nicht gebilligt, sondern eine Einzelfallbetrachtung gefordert.
Im Rahmen der Einzelfallbetrachtung ist hier zu berücksichtigen, dass der Kläger nur einen sehr geringen Anteil seiner Gesamtversicherungszeit nicht verheiratet war. Die steuerlichen Verhältnisse am 31.12.2001 haben die Biografie des Klägers während der Dauer seiner Zusatzversicherung bei der Beklagten nicht geprägt.
Der Kläger war vielmehr von den über 39 Jahren seiner Versicherungszeit bei der Beklagten nur 2 Jahre und 4 Monate nicht verheiratet. Dies entspricht einem Anteil von 6 Prozent.
Die lange von der Steuerklasse III/0 geprägte Versicherungszeit des Klägers bis zur Systemumstellung, der schicksalhafte Tod seiner ersten Ehefrau verbunden mit der hohen Einbuße des Klägers durch die steuerliche Zuordnung am Stichtag, die nicht durch andere Wirkmechanismen der Systemumstellung kompensiert wird, rechtfertigen daher die Annahme einer besonderen Härte im Einzelfall des Klägers.
Voraussetzung der Annahme eines Härtefalls ist nicht, dass der Kläger aufgrund der nachteiligen Satzungsbestimmung existenziell gefährdet ist. Zwar hat der Senat im Rahmen der vorzunehmenden Einzelfallbetrachtung auch der Tatsache Bedeutung beigemessen, dass die Anwendung der Satzungsbestimmung dazu führt, dass die Renteneinkünfte des Betroffenen nicht mehr auskömmlich sind (Senat, Urteil vom 28.12.2012 – 12 U 113/12 –, unter II. B. 2.).
Dies ist jedoch nur ein Aspekt, der im Rahmen der Einzelfallbetrachtung zu berücksichtigen ist. Dem Aspekt der existenziellen Gefährdung kommt besondere Bedeutung bei Bestandsrentnern zu, die – anders als noch im Erwerbsleben befindliche Versicherte – keine weitere Altersvorsorge mehr betreiben können.
Praxishinweis
Im Hinblick auf den Entgeltcharakter der Betriebsrente ist eine existentielle Gefährdung im Grunde genommen keine unabdingbare Voraussetzung der Annahme eines Härtefalls (OLG Karlsruhe, Urteil vom 05. Juni 2007 – 12 U 121/06 –, Rn. 34).
Vielmehr ist erforderlich, aber auch hinreichend, dass infolge besonderer Umstände, die über die gesetzgeberische Entscheidung hinausgehen, eine besondere unzumutbare Härte vorliegt (BGH, Beschluss vom 17. Oktober 2018 – IV ZR 163/17 –, Rn. 18).
Neben den bisher ergangenen Entscheidungen zu Härtefällen bei rentennahen Versicherten, können sich jetzt auch rentenfern Versicherte unter den genannten Voraussetzungen des individuellen Härtefalls gegen den Betriebsrentenbescheid wenden, um einen Erhöhung ihrer Versorgung zu erreichen.
Da die Startgutschrift eine der Grundlagen für den Betriebsrentenbescheid darstellt, kann auch nach Ablauf der in der Startgutschrift genannten Rechtsmittelfrist immer noch die vollständige Berechnung angegriffen werden. Die im Rentenbescheid der VBL genannten Fristen zur Erhebung einer Beanstandung oder Klage sind allerdings zu beachten.
Christian Wagner, Karlsruhe
Rechtsanwalt
Fachanwalt für Medizinrecht
Fachanwalt für Sozialrecht
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