"From the river to the sea, Palestine will be free" ist Verfassungsgebot!

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In ihrem mündlichen Vortrag vor dem Internationalen Gerichtshof rechtfertigten die Vertreter der Bundesregierung die politische und militärische Unterstützung Israels damit, dass Deutschland aufgrund seiner "speziellen historischen Verantwortung" die "permanente Verpflichtung" habe, "sich für die Existenz und Sicherheit des Staates Israel einzusetzen". Dies stelle Deutschland vor "schwierige Entscheidungen", die "richtige Balance" zu finden zwischen dem "Schutz von Israels Sicherheit und der Unterstützung der Rechte der Palästinenser".

Die Art und Weise der Abwägung der Rechte der Palästinenser durch die Bundesregierung widerspricht nicht nur dem humanitären Völkerrecht, den universellen Menschenrechten und - in der aktuellen Lage in Gaza - plausibler weise der Völkermordkonvention, sondern auch der deutschen Verfassung.

In der sogenannten BND-Entscheidung vom 19. Mai 2020 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die Bindung der deutschen Staatsgewalt an die Grundrechte nicht auf das deutsche Staatsgebiet begrenzt ist: Der Anspruch eines umfassenden, den Menschen in den Mittelpunkt stellenden Grundrechtsschutzes spreche dafür, dass die Grundrechte immer dann schützen sollen, wenn der deutsche Staat handelt und damit potentiell Schutzbedarf auslösen kann – unabhängig davon, an welchem Ort und gegenüber wem. Ferner beschränke sich die Bindung an die Grundrechte als individuelle Abwehrrechte auch nicht auf Konstellationen, in denen der Staat den Betroffenen als mit dem Gewaltmonopol versehene Hoheitsmacht gegenübertritt, sondern erstrecke sich auf "jedes Handeln staatlicher Organe oder Organisationen", auf alle "Maßnahmen, Äußerungen und Handlungen hoheitlicher wie nicht hoheitlicher Art". 

Die Grundrechtsbindung der deutschen Staatsgewalt auch bei einem Handeln gegenüber Ausländern im Ausland (im Fall des Bundesverfassungsgerichts wurde die sogenannte Ausland-Ausland-Telekommunikationsüberwachung für verfassungswidrig erklärt) entspreche "zugleich der Einbindung der Bundesrepublik in die internationale Staatengemeinschaft"; die Grundrechte des Grundgesetzes würden so in den Zusammenhang internationaler Menschenrechtsgewährleistungen gestellt, die über die Staatsgrenzen hinweg auf einen Schutz abzielen, der dem Menschen als Menschen gilt. Entsprechend schlössen Art. 1 Abs. 2 und Art. 1 Abs. 3 GG an die Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG an. 

So scheide eine Datenübermittlung an andere Staaten aus, wenn zu befürchten sei, dass durch die Nutzung der Informationen elementare rechtsstaatliche Grundsätze verletzt würden: Der Staat darf seine Hand nicht zu Verletzungen der Menschenwürde reichen. Für die Nutzung im Empfängerstaat (hier: von Informationen aus der  Überwachung des Telekommunikationsverkehrs von im Ausland befindlichen Ausländerinnen und Ausländern durch deutsche Geheimdienste) müsse "insbesondere gewährleistet erscheinen, dass die Informationen dort weder zu politischer Verfolgung noch zu unmenschlicher oder erniedrigender Bestrafung oder Behandlung …eingesetzt werden".

Nach den obigen Grundsätzen hat die Bundesregierung schon durch die Art und Weise ihrer politischen Unterstützung des Staates Israel, einschließlich ihrer Äußerungen vor dem Gerichtshof, die verfassungsrechtlich garantierte Menschenwürde der Palästinenser verletzt:

Der "Staat Israel" kann sich als ausländische juristische Person des öffentlichen Rechts jedenfalls unter dem Aspekt seiner "Existenz und Sicherheit" nicht auf die Grundrechte des Grundgesetzes berufen, sondern ist selbst in der Ausübung seiner Hoheitsgewalt durch die Menschenrechte gebunden. Erst recht besitzt der israelische Staat als juristische Person keine nach Art. 1 GG zu schützende Menschenwürde, so dass jedenfalls die Gleichstellung der "Sicherheitsinteressen" des israelischen Staates mit der Menschenwürde der Palästinenser letztere in verfassungswidriger Weise abwertet.

Soweit die Bundesregierung ihre Abwägung dahingehend verstanden wissen will, dass sie nicht die Sicherheit des Staates Israel, sondern der individuellen Israelis in Israel schützen wolle, muss sie sich vorhalten lassen, dass sie auch insoweit die Palästinenser in unerträglicher und mit der Menschenwürdegarantie nicht zu vereinbarender Weise rechtlich abwertet und in demütigender Weise ungleich behandelt:

Durch die Ignorierung des über Jahrzehnte gewaltsam erlittenen Unrechts der Palästinenser, insbesondere 

- der Vertreibung von hunderttausenden Palästinensern von ihrem eigenen Land in den Jahren 1948 und 1967

- des Baues und der Aufrechterhaltung der rechtswidrigen jüdischen Siedlungen und Infrastruktur und rechtswidrigen Sperrmauer im Westjordanland trotz der Sperrmauer-Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs von 2004

- der rechtswidrigen Aufrechterhaltung der Besetzung des palästinensischen Westjordanlandes und des Gazastreifens entgegen rechtswirksamen Beschlüssen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen

- des Ergebnisses der palästinensischen Wahlen in 2006 und die hierdurch ausgedrückte Geringschätzung des Willens der Palästinenser,

sowie durch 

- die aktive Mitwirkung an der die palästinensische Wirtschaft, das soziale und kulturelle Leben in Gaza und die persönliche Freiheit der Palästinenser erstickenden Blockade seit dem Jahr 2007 

- die bis heute andauernde Verweigerung der Anerkennung Palästinas als Staat und die damit verbundene Qualifikation der Palästinenser als "Staatenlose".

Alle oben genannten Handlungen der deutschen Regierung stellen gravierende, im Verhältnis zu den Bewohnern Israels demütigende Ungleichbehandlungen der Palästinenser und damit eine Verletzung ihrer grundgesetzlich garantierten Menschenwürde dar. Hinzu kommt, dass die obigen Handlungen - direkt oder indirekt - zu einer ungerechtfertigten und rechtswidrigen Verschiebung von Vermögenswerten wie Bauland, Agrarland, Wasser oder Energieressourcen zulasten der Palästinenser und zugunsten der Israelis geführt oder beigetragen haben und dies weiterhin tun.

Die fortgesetzte politische und militärische Unterstützung Israels im Gazakrieg trotz des immensen Verlustes an unschuldigem menschlichem Leben, der erwiesenen und dokumentierten Dimension der Zerstörung an Wohnhäusern, Krankenhäusern, Schulen, Universitäten, Infrastruktur, historischen Denkmälern und religiösen und kulturellen Einrichtungen, trotz der ebenfalls dokumentierten drohenden oder bereits vorhandenen Hungersnot und Epidemien in Gaza und trotz der intensivierten unrechtmäßigen Häuserzerstörungen (Kollektivbestrafung) und Inhaftierungen (Administrativhaft) im Westjordanland stellt somit nur das letzte Glied der Demütigungen der Palästinenser im historischen Palästina dar.

Dem Aufruf "from the river to the sea, Palestine will be free", verstanden als Forderung, im historischen Palästina ein gleichberechtigtes Leben von Palästinensern und Israelis in Freiheit und Würde herzustellen, ist somit verfassungsrechtlich zwingend zu folgen.




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