Irrtümer und Fakten zur Pflichtverteidigung

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Wer mittellos ist, muss weder Gerichts- noch Anwaltskosten bezahlen? Im Strafverfahren gelten andere Spielregeln. Wer einer Straftat verdächtigt wird und kein Geld für einen Rechtsanwalt hat, der kann sich zwar im Wege der Beratungshilfe einen ersten Rechtsrat einholen. Soll der Rechtsanwalt dann aber nach außen tätig werden oder den Betroffenen gar vor Gericht verteidigen, gibt es keine Prozesskostenhilfe, wie man sie aus anderen Rechtsgebieten kennt. Der Betroffene muss seinen Rechtsanwalt selbst bezahlen. Wer das nicht kann, meint oftmals, er bekäme „dann wenigstens einen Pflichtverteidiger“. Doch so einfach ist es nicht. In diesem Beitrag klärt Rechtsanwalt Maik Bunzel über die häufigsten Irrtümer und Fakten zu diesem Thema auf.

Was ist ein Pflichtverteidiger?

Ein sogenannter Pflichtverteidiger wird Ihnen bestellt, wenn Sie keinen Verteidiger haben, aber nach dem Gesetz zwingend einen Verteidiger haben müssen. Folgende Fälle kommen in Betracht:

  • Ihnen wird ein Verbrechen zur Last gelegt. Verbrechen sind Straftaten, die mit mindestens einem Jahr Freiheitsstrafe bedroht sind.
  • Die Hauptverhandlung findet in erster Instanz vor dem Landgericht oder Oberlandesgericht bzw. Kammergericht statt.
  • Das Strafverfahren kann zu einem Berufsverbot führen.
  • Gegen Sie wird ein Sicherungsverfahren durchgeführt (Beispiel: Entziehung der Fahrerlaubnis trotz Schuldunfähigkeit bei Tatbegehung).
  • Sie befinden sich in Untersuchungshaft, in einem psychiatrischen Krankenhaus, einer Entziehungsanstalt oder einer Unterbringung nach (nicht rechtskräftiger) Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung.
  • Es soll ein Gutachten über Ihren psychischen Zustand erstellt werden.
  • Sie befindet sich seit mindestens 3 Monaten in einer Anstalt und werden nicht mindestens 2 Wochen vor Beginn vor Hauptverhandlung entlassen. Beispiele:
    • Strafvollzug (auch als Freigänger)
    • Jugendarrest
    • Erziehungsheim
    • Auslieferungshaft
    • Psychiatrie
    • Therapieeinrichtung (auch freiwillig)
  • Ihr bisheriger Verteidiger wurde ausgeschlossen. Dies gilt auch dann, wenn die Mitwirkung des Verteidigers bis zu seinem Ausschluss gesetzlich nicht zwingend war.
  • Dem Verletzten der Straftat ist ein Rechtsanwalt beigeordnet worden.

Darüber hinaus gibt es Fälle, in denen Ihnen auf Antrag ein Verteidiger bestellt wird. Folgende Konstellationen kommen in Betracht:

  • Sie sind hör‑ oder sprachbehindert.
  • Die Mitwirkung eines Verteidigers erscheint wegen der Schwere der Tat geboten. Beispiele:
    • Tötungsdelikte
    • drohende Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens 1 Jahr
    • drohender Widerruf der Bewährung oder der Zurückstellung (35 BtMG)
    • drohende schwere disziplinarrechtliche Folgen (bei Beamten, Soldaten etc.)
    • drohendes Fahrverbot oder drohende Entziehung der Fahrerlaubnis, soweit für Ihre Berufstätigkeit relevant
    • schwerwiegende zivilrechtliche Haftungsfolgen bei einer Verurteilung
    • drohende Einziehung wertvoller Gegenstände
    • drohende Ausweisung (bei Ausländern)
  • Die Mitwirkung eines Verteidigers erscheint wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage geboten. Beispiele:
    • Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen
    • umfangreiche und langwierige Beweisaufnahme
    • Auseinandersetzung mit Sachverständigengutachten
    • Interessengegensätze verschiedener Mitangeklagter
    • Verfahren vor dem erweiterten Schöffengericht
    • Wirtschaftsstrafsachen
    • viele Taten innerhalb eines Strafverfahrens
  • Sie können sich ersichtlich nicht selbst verteidigen. Beispiele:
    • mangelnde Sprachkenntnisse, Lese- und Schreibschwächen
    • erhebliche körperliche oder geistig-seelische Gebrechen
    • Revisionsverfahren (Erfordernis vollständiger Akteneinsicht und streng formalisierter Rügen)

Die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen spielen demgegenüber für die Pflichtverteidigung überhaupt keine Rolle. In Fällen notwendiger Verteidigung wird jedem, der noch keinen Rechtsanwalt als sogenannten Wahlverteidiger hat, ein Verteidiger bestellt – auch „reiche“ Betroffene können also einen Pflichtverteidiger haben.

Wie bekommt man einen Pflichtverteidiger?

Die vorstehende – nicht abschließende – Übersicht macht deutlich, dass bereits der Antrag auf Bestellung eines Verteidigers besser durch einen Rechtsanwalt gestellt wird. Die skizzierte Rechtslage zeigt außerdem: Ein Pflichtverteidiger ist kein spezieller Rechtsanwalt. Jeder Rechtsanwalt kann zum Verteidiger des Betroffenen bestellt werden, wenn ein Fall notwendiger Verteidigung vorliegt – den Beruf des „Pflichtverteidigers“ gibt es nicht. Hieraus folgt, dass der Betroffene sich seinen Verteidiger – auch, wenn es ein sogenannter Pflichtverteidiger sein soll – selbst aussuchen kann. Vereinzelt fordern Polizeibehörden, Staatsanwaltschaften und Gerichte Betroffene zwar auch heute noch auf, einen Pflichtverteidiger „aus dem Bezirk des zuständigen Gerichts“ zu wählen. Seit dem 1. Oktober 2009 muss der bestellte Verteidiger aber nicht mehr „aus der Zahl der in dem Gerichtsbezirk niedergelassenen Rechtsanwälte ausgewählt“ werden – der Betroffene kann jeden beliebigen Rechtsanwalt benennen.

Benennen Sie keinen Rechtsanwalt, der Ihnen als Verteidiger beigeordnet werden soll, sucht das Gericht ihn für Sie aus. Die Praxis zeigt leider, dass Gerichte hierbei oftmals nicht die optimale Verteidigung des Betroffenen im Sinn haben. Stattdessen ordnen sie solche Rechtsanwälte bei, die den Großteil ihrer Einnahmen aus derlei Beiordnungen generieren. Sie sind deshalb auf den Gutwillen des Gerichts angewiesen und machen in der Regel „keine Schwierigkeiten“. Für das Gericht hat dies weniger Arbeit zur Folge, für den Betroffenen eine mangelhafte Verteidigung. Sie sollten deshalb stets einen versierten Strafverteidiger benennen und nicht blindlings dem Vorschlag des Gerichts vertrauen.

Wer bezahlt den Pflichtverteidiger?

Wird Ihnen ein Verteidiger bestellt, erhält dieser zwar seine Gebühren aus der Staatskasse. Im Fall einer Verurteilung wird die Staatskasse diese Gebühren jedoch – als Teil der Verfahrenskosten – von Ihnen ersetzt verlangen. Die Pflichtverteidigergebühren sind außerdem geringer als die Gebühren des Wahlverteidigers. Dies führt dazu, dass auch Pflichtverteidiger von ihren Mandanten oftmals – zulässigerweise – die weitere Vergütung bis zur Höhe der Wahlverteidigervergütung verlangen oder in umfangreichen Verfahren Vergütungsvereinbarungen mit ihren Mandanten schließen – anders können solche Verfahren schlicht nicht kostendeckend bearbeitet werden. Wirklich kostenlos ist ein Pflichtverteidiger damit nur für Mandanten, die freigesprochen oder deren Verfahren auf Kosten der Staatskasse eingestellt werden.

Eine Ausnahme hiervon gilt im Jugendstrafrecht: Hier kann davon abgesehen werden, dem Angeklagten die Kosten seines Pflichtverteidigers aufzuerlegen. Entscheidend ist, ob der Betroffene die Verfahrenskosten aus eigenen Mitteln bestreiten kann. Bei Jugendlichen – dies sind 14- bis einschließlich 17-Jährige – ist das in aller Regel nicht der Fall. Jugendliche müssen deshalb die Gebühren des Pflichtverteidigers zumeist auch dann nicht bezahlen, wenn sie verurteilt werden. Bei Heranwachsenden – zwischen 18 und einschließlich 20 Jahren – gilt diese Vorschrift nur, wenn Jugendstrafrecht zur Anwendung kommt. Geprüft wird außerdem, ob die Auferlegung der Verfahrenskosten erzieherisch sinnvoll ist – ist dies der Fall und verfügt der Betroffene über die erforderlichen finanziellen Mittel, wird man ihn zur Zahlung der Pflichtverteidigergebühren als Teil der Verfahrenskosten verurteilen.

Prozesskostenhilfe im Strafrecht? Gibt es doch!

Erst im Strafvollzug gibt es Prozesskostenhilfe nach den allgemeinen Regeln. Wer etwa im Gefängnis sitzt, verlegt werden oder Urlaub bekommen möchte, der kann – wie in anderen Rechtsgebieten auch – Prozesskostenhilfe beanspruchen, wenn er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Kosten der Rechtsverfolgung selbst aufzubringen. Wem dies aber kein hinreichender Trost ist, der sollte frühzeitig für eine optimale Strafverteidigung sorgen. Eine solche gibt es nicht zum Nulltarif.

Rechtsanwalt Maik Bunzel, Cottbus


Rechtstipp aus den Rechtsgebieten

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