Können sich angestellte Freiberufler von der Sozialversicherungspflicht befreien lassen?

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Verfasser: Rechtsanwalt Dr. Horst Metz und Assessor Jur. Christoph Lindner

A.   Einleitung und Fallbeispiel

Angestellte „Freiberufler" aus den sog. klassischen Kammerberufen wie Ärzte, Apotheker, Architekten, Rechtsanwälte, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Ärzte sowie deren Arbeitgeber suchen unsere Unterstützung, weil sie im Rahmen von Betriebsprüfungen veranlasst werden, die Beiträge zur Rentenversicherung an die gesetzliche Rentenversicherung und nicht mehr an das berufsständische Versorgungswerk zu zahlen.

Dabei geht es meist um die Fragen, wie der Begriff der „Beschäftigung" auszulegen ist und inwiefern eine einmal erfolgte Befreiung von der Sozialversicherungspflicht sich auch auf andere bzw. weitere Beschäftigungen erstreckt. Die Meinungsunterschiede zur Sozialversicherungspflicht von angestellten Freiberuflern haben in jüngster Zeit wieder das Bundessozialgericht (BSG) (1) und die Landessozialgerichte (2) beschäftigt. 

Dazu folgender Fall aus unserer Beratungspraxis: Die Innenarchitektin A wurde im Jahr 1996 von der zuständigen Kammer als Innenarchitektin zugelassen und auf Antrag bei der DRV von der Sozialversicherungspflicht befreit. Sie arbeitet seit 2006 in Nordrhein-Westfalen als Angestellte bei einer Wohnungsgesellschaft im Bereich Kundenbetreuung und Verwaltung, was auch im Arbeitsvertrag sowie der Arbeitsplatzbeschreibung so festgehalten wurde. Jedoch ist sie häufig auf ihre Kenntnisse und Ausbildung als Innenarchitektin bei ihrer tatsächlichen Tätigkeit angewiesen. Eine erneute Befreiung von der Sozialversicherungspflicht hat sie 2006 nicht mehr beantragt. Bei einer Betriebsprüfung im Jahre 2012 beanstandet die DRV, dass A nur im Versorgungswerk der Architekten und nicht gesetzlich rentenversichert ist. Nach einer Anhörung der Beteiligten, in der sowohl das Versorgungswerk als auch die Architektenkammer die Tätigkeit von A als die einer Innenarchitektin einstufen, ergeht der Bescheid der DRV an die Arbeitgeberin von A, über 30.000 € an Rentenversicherungsbeiträgen für die Zeit ab 2006 nachzuzahlen.

B.   Regelungen im Sozialgesetzbuch (SGB)

I. § 7 Abs. 1 SGB IV: Abhängige Beschäftigung

Arbeitnehmer, also in unserem Fall auch die angestellte Architektin, sind abhängig Beschäftigte i. S. d. § 7 Abs. 1 SGB IV. Es gelten die vom BSG herausgearbeiteten Grundsätze, dass eine abhängige Beschäftigung dann vorliegt, wenn eine Eingliederung in eine fremdbestimmte Arbeitsorganisation vorliegt. Dabei ist auf die tatsächlichen Verhältnisse abzustellen, nicht auf die vertraglichen (3).

II. Befreiung gem. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI

Für die Befreiung von der Sozialversicherungspflicht in einer Beschäftigung ist kumulativ erforderlich, dass

  • eine gesetzlich vorgesehene Mitgliedschaft in einer berufsständischen Organisation und gleichzeitig Mitgliedschaft in einer berufsständischen Versorgungseinrichtung gegeben ist, in die einkommensbezogene Beiträge unter Berücksichtigung der Beitragsbemessungsgrenze zur Absicherung einer Alters-, Invaliden- und Hinterbliebenenversorgung zu zahlen sind
  • die gesetzliche Verpflichtung zur Mitgliedschaft in einer Kammer bereits vor dem 1.1.1995 am Ort der Beschäftigung bestand
  • die Befreiung „für die Beschäftigung" erfolgt.

Für unseren Beispielsfall heißt das:

Die Pflichtmitgliedschaft kraft Gesetzes einer Innenarchitektin ergibt sich aus § 12 BauKaG NRW i. V. m. § 4 BauKaG. Mit Eintragung in die bei der Architektenkammer geführte Liste erhält der Antragsteller das Recht, die Berufsbezeichnung „Innenarchitekt" zu führen und wird damit Pflichtmitglied in der Architektenkammer.

Das BauKaG vom 16.12.2003 löst gem. § 103 BauKaG das vorherige BauKaG vom 15.12.1992 ab, welches die gleichen Regelungen hinsichtlich der Pflichtmitgliedschaft vorsah.

Das BSG hat die o. g. Stichtagregelung für verfassungsgemäß angesehen (4). Hintergrund der Stichtagregelung war die Einführung neuer Kammerberufe, insbesondere der Ingenieure mit bereits über 500.000 freiwilligen Mitgliedern. Hier sah der Gesetzgeber Handlungsbedarf.

Die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI sind allerdings nur gegeben, wenn auch die Voraussetzung des Merkmals „für die Beschäftigung" bzw. „wegen der" vorliegt.

C. Auslegung durch die Rechtsprechung

Das BSG hat sich jüngst in zwei Entscheidungen mit der Abgrenzung von einer „berufsgruppenspezifischen" von einer „ sonstigen Tätigkeit" befasst (5).

Zentrale Aussagen dieser Entscheidungen sind:

  • Es bestehen keine klaren Abgrenzungskriterien für die jeweiligen Tätigkeiten. Das von der DRV häufig genutzte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal „berufsgruppenspezifische Tätigkeit" ist für den Begriff „Beschäftigung" nicht ausschlaggebend. Das Gesetz knüpft in § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI vielmehr an die Zugehörigkeit zu einer Kammer und berufsständischen Versorgungseinrichtung an.
  • Anknüpfungspunkt für die Befreiung ist allein die jeweilige Beschäftigung, die sich nicht über die Berufsbezeichnung, Qualifikation oder den beruflichen Status definiert.
  • Beschäftigung ist i. s. d. § 7 Abs. 1 SGB IV zu verstehen.
  • Die Abgrenzung zu berufsfremden, nicht befreiungsfähigen Beschäftigungen kann allenfalls mit entsprechender Anwendung der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Auslegung des Begriffs der Berufsausübung als Voraussetzung für eine Pflichtmitgliedschaft in den entsprechenden Kammern erfolgen.
  • Die DRV hat sich bei der Prüfung der Frage, ob der Betroffene wegen der jeweiligen Beschäftigung Mitglied in einer berufsständischen Kammer und Versorgungseinrichtung ist, ausschließlich an den einschlägigen berufsrechtlichen bzw. kammer- und versorgungsrechtlichen Normen zu orientieren.

Die Sozial (6)- und Landessozialgerichte (7) formulieren es teilweise noch deutlicher:

Ist es nach den einschlägigen berufsrechtlichen Normen für die Begründung der Pflichtmitgliedschaft in Kammer und Versorgungswerk ausreichend, dass eine Tätigkeit ausgeübt wird, die keinen Tatbestand erfüllt, der die Versagung, die Rücknahme oder den Widerruf der Zulassung rechtfertigt, dann handelt es sich um eine Tätigkeit bzw. Beschäftigung, „wegen der" i. S. d. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB VI Befreiung beansprucht werden kann (8).

Nach der Rechtsprechung des BSG sowie der LSG bzw. SG ist aufgrund der Abgrenzungsproblematik die Frage zu prüfen, ob eine solche Tätigkeit ausgeübt wird, die die Kammer im Zweifelsfall zu einem Widerruf der jeweiligen Zulassung berechtigen würde.

Die Tendenz der Rechtsprechung geht dahin, den Einschätzungen der Kammern höheres Gewicht einzuräumen als den Beurteilungen durch die DRV. Denn den Kammern steht auf Grundlage ihres verfassungsrechtlich gewährleisteten Selbstverwaltungsrechts eine Entscheidungsprärogative zu. Diese sollte auch bei der Auslegung von Rechtsbegriffen herangezogen werden.

D. Einmal befreit, immer befreit? Bedeutung von § 6 Abs. 5 SGB VI

Größte Vorsicht ist geboten, wenn zu einem früheren Zeitpunkt eine Befreiung von der Sozialversicherungspflicht erfolgt ist und der Betroffene den Arbeitgeber wechselt bzw. eine weitere Tätigkeit aufnimmt, ohne nochmals einen Befreiungsantrag „im Vertrauen" auf den ehemals gültigen Bescheid der DRV zu stellen.

Ansatzpunkt ist § 6 Abs. 5 S. 1 SGB VI:

„Die Befreiung ist auf die jeweilige Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit beschränkt."

Das BSG (9) hat eine solche Fortwirkung bei der Beschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber klar verneint, selbst wenn die Tätigkeit identisch ist. Wichtigste Argumente sind:

  • Die Befreiung beschränkt sich nach dem Wortlaut der Vorschrift nur auf die Tätigkeit bei einem bestimmten Arbeitgeber, allerdings nicht auf weitere Beschäftigungen unabhängig von deren Inhalt.
  • Sollte eine „berufsgruppenspezifische Tätigkeit" auch in einem anderen folgenden Beschäftigungsverhältnis vorliegen, so kann dieses Tatbestandsmerkmal nicht in den § 6 Abs. 5 S. 1 SGB VI hineininterpretiert werden. Dem steht der Wortlaut der Vorschrift entgegen.
  • Auch der Grundsatz des Vertrauensschutzes steht dem nicht entgegen. Der Betroffene muss im Zweifelsfall beim Wechsel der Beschäftigung einen neuen Antrag bei der DRV stellen bzw. zumindest nachfragen, ob die bisherige Befreiung weiterhin Gültigkeit hat. Vertrauensschutz kommt dann in Betracht, wenn seitens der Behörde eine Fortwirkung bejaht wurde.

§ 6 Abs. 5 S. 2 SGB VI ist entsprechend eng auszulegen, es fallen darunter nur zeitlich begrenzte Tätigkeiten.

E. Ratschläge für die Praxis

Für jeden Freiberufler ist es mittlerweile ein „Muss", bei Aufnahme einer Tätigkeit als Angestellter einen Antrag auf Befreiung von der Sozialversicherungspflicht über die jeweilige Kammer bzw. direkt bei der DRV zu stellen. Dieser Antrag ist bei Wechsel des Arbeitgebers zu wiederholen. Zu beachten sind die Fristen bei Antragstellung; dieser wirkt gem. § 6 Abs. 4 SGB VI nur in den ersten drei Monaten nach Aufnahme der Beschäftigung auf den Tätigkeitsbeginn zurück, danach zählt das Eingangsdatum des Antrages. Trotz späterer Feststellung durch die DRV, dass keine Sozialversicherungspflicht besteht, können trotzdem Beiträge für die Zeit vom Beginn der Beschäftigung bis zur Antragstellung fällig sein.

Für den Arbeitgeber können u. U. hohe finanzielle Belastungen entstehen, da er gem. § 28 e SGB IV zur Abführung der Sozialversicherungsbeiträge verpflichtet ist. Da sich die DRV sehr restriktiv zeigt, sollte rechtzeitig anwaltliche Hilfe in Anspruch genommen werden.

F. Zusammenfassung

Die Rechtsprechung zur Befreiung von angestellten Freiberuflern von der Sozialversicherungspflicht ist noch nicht abschließend. Es ist die Tendenz erkennbar, die berufsrechtlichen Normen und die Einschätzungen der Kammern stärker in den Vordergrund zu stellen und nicht die Beurteilung durch die DRV, was den Inhalt einer Beschäftigung angeht. Das bisher häufig von der DRV genutzte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der „berufsgruppenspezifischen Tätigkeit" verliert an Bedeutung. Damit bestehen gute Chancen für die Betroffenen, mit ihrem Anliegen auf Befreiung von der Sozialversicherungspflicht auch erfolgreich zu sein.

Weitere Informationen in den nachstehenden Fußnoten:

(1)  BSG, Urteile vom 31.10.2012, B 12 R 5/10 R und B 12 R 3/11 R

(2)  LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 19.2.2013, L 11 R 2182/11

(3)  BSG, Urteile vom 11.3.2009, B 12 KR 13/07 R und vom 28.9.2011, B 12 R 17/09 R

(4)  BSG, Urteil vom 9.3.2005, B 12 RA 8/03 R

(5)  BSG, s. FN 1

(6)  SG Düsseldorf, 2.11.2010, S 52 R 230/09 und 14.11.2011, S 52 R 1995/11

(7)  So LSG BW FN 2; a. A.: HessLSG, 29.10.2009, L 8 KR/08

(8)  AF, Ende des „ungeschriebenen" Tatbestandsmerkmals der sog. berufsspezifischen Tätigkeit i. s. d. § 6 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 i. V. m. § 6 Abs. 5 S. 1 SGB VI, in: syndikus-und-rentenversicherung.de; Stand 9.5.2013

(9)  S. FN 1


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