Kommen jetzt die Vereinigten Staaten von Europa?

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Jüngste Ereignisse lassen den Ruf nach Vereinigten Staaten von Europa erklingen. Ein Versuch der verfassungsrechtlichen Einordnung. 

Die Idee föderaler „Vereinigten Staaten von Europa“ weckt Fragen nach der rechtlichen und demokratischen Umsetzbarkeit. Insbesondere aus deutscher Sicht sind die Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) – etwa im Maastricht-Urteil (1993) und Lissabon-Urteil (2009) – sowie die Vorgaben des Grundgesetzes (GG) und des EU-Vertrags entscheidend. Im Folgenden wird untersucht, welche rechtlichen Hürden bestehen und welche Reformwege denkbar sind, um das Ziel einer europäischen Föderation zu verwirklichen. Dabei werden zwei Ansätze betrachtet: (1) eine grundlegende Reform durch Schaffung einer europäischen Verfassung und (2) eine schrittweise Umsetzung innerhalb der bestehenden EU-Verträge. Abschließend erfolgt eine Bewertung der Erfolgschancen.

1. Grundlegende Reform oder europäische Verfassung

1.1 Demokratische Prinzipien und Grundrechte in einer europäischen Verfassung

Eine echte europäische Verfassung – verstanden als supranationaler Verfassungstext mit unmittelbarer Geltung für eine europäische Föderation – müsste höchsten demokratischen Ansprüchen genügen und den Grundrechtsschutz gewährleisten. Sie dürfte die in Europa bewährten demokratischen Prinzipien (Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Menschenrechte) nicht schwächen, sondern müsste sie gemeinschaftsweit verankern. Theoretisch könnte eine solche Verfassung die demokratischen Defizite der EU beheben, indem sie z.B. ein direkt vom EU-Bürger legitimiertes Regierungssystem schafft. Wichtig ist, dass Grundrechte mindestens so wirksam geschützt werden wie im deutschen Grundgesetz und den EU-Verträgen (etwa durch die EU-Grundrechtecharta). Hieran stellt auch Art. 23 Abs. 1 GG eine Bedingung: Deutschland darf nur an einer EU mitwirken, die demokratische, rechtsstaatliche, soziale und föderative Prinzipien sowie einen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet

Eine europäische Verfassung könnte also nur dann umgesetzt werden, wenn sie demokratisch zustande kommt und Grundrechte effektiv schützt. Das erfordert einen inklusiven Verfassungsprozess – etwa durch einen Europäischen Konvent mit Vertretern der Bürger und Regierungen – sowie wahrscheinlich Volksabstimmungen in den Mitgliedstaaten, um breite Legitimation zu sichern. Andernfalls würde eine solche Verfassung politisch kaum Akzeptanz finden.

1.2 Verfassungsrechtliche Hürden in Deutschland (Maastricht- und Lissabon-Urteil)

Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat wiederholt betont, dass der Spielraum des Gesetzgebers für die europäische Integration begrenzt ist. Im Maastricht-Urteil prägte das BVerfG den Begriff des „Staatenverbunds“ für die EU: Die Union ist mehr als ein reiner Staatenbund, aber kein Bundesstaat, da ihr ein einheitliches europäisches Staatsvolk fehlt

Deutschlands Mitgliedschaft in einer supranational organisierten Gemeinschaft verstößt nicht gegen das Demokratieprinzip, solange in der EU demokratische Prinzipien gewahrt bleiben und die Handlungen der EU-Organe ausreichend rückgekoppelt sind an demokratische Institutionen. Schon 1993 stellte Karlsruhe klar, dass die EU-demokratische Legitimation sich „notwendig durch Rückkopplung […] an die Parlamente der Mitgliedstaaten“ sowie durch das Europäische Parlament ergibt. Gleichzeitig zieht das Gericht eine Grenze: Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU darf nur bereichspezifisch aufgrund ausdrücklicher Ermächtigung erfolgen; eine Übertragung der “Kompetenz-Kompetenz” (also der Befugnis der EU, sich selbst weitere Zuständigkeiten zu geben) ist unzulässig. Damit behält sich das BVerfG vor, EU-Akte auf Überschreitung der Vertragskompetenzen (ultra-vires) zu überprüfen.

Im Lissabon-Urteil 2009 hat das BVerfG diese Linie bestätigt und konkretisiert. Es hielt den Vertrag von Lissabon zwar für vereinbar mit dem Grundgesetz, mahnte aber an, dass gewisse staatliche Kernkompetenzen nicht an die EU abgegeben werden dürfen, ohne das Demokratieprinzip zu verletzen

Dazu zählen insbesondere „inhärent staatliche“ Bereiche wie das Gewaltmonopol (Polizei/Militär), grundlegende Fiskalentscheidungen (Haushalt, Steuern), Strafrecht mit Eingriffsbefugnissen (etwa Freiheitsentzug) sowie kulturell prägende Politikfelder (Schule/Bildung, Religion). Würde die EU in solchen Bereichen die ausschließliche Entscheidungsgewalt erhalten, bliebe den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum politischer Gestaltung – das wäre laut BVerfG mit dem Demokratieprinzip unvereinbar. Das Gericht stellte klar, dass Deutschland durch Lissabon weiterhin ein souveräner Staat bleibt und das Grundgesetz offen ist für eine „kontrollierte und verantwortbare“ Übertragung von Hoheitsrechten. Jedoch seien wesentliche Demokratieprinzipien „nicht abwägungsfähig“ und schon gar nicht durch Verfassungsänderung aufhebbar. Insbesondere enthält das Grundgesetz keine generelle Ermächtigung, beliebig Hoheitsrechte an die EU zu übertragen – die Souveränität Deutschlands ist also letztlich durch die Verfassung selbst geschützt.

Die Integrationsgrenze ist im deutschen Recht durch den Ewigkeitsvorbehalt des Art. 79 Abs. 3 GG markiert: Die Grundprinzipien des Art. 20 GG (Demokratie, Bundesstaatlichkeit, Sozialstaatlichkeit) dürfen nicht beseitigt werden. Eine EU-Entwicklung hin zu einem echten Bundesstaat würde die Identität des Grundgesetzes tangieren, da Deutschland dann seine Staatlichkeit in einer neuen Föderation aufgehen ließe. Das BVerfG formulierte dazu, einen derartigen Identitätswechsel – die Umwandlung Deutschlands in ein Gliedstaat eines europäischen Bundesstaates – könne nicht durch ein einfaches Gesetz (auch kein verfassungsänderndes Zustimmungsgesetz) legitimiert werden, „sondern nur von den Wahlberechtigten ‚in freier Entscheidung‘

Hier kommt Artikel 146 GG ins Spiel, der das Recht des deutschen Volkes festschreibt, sich eine neue Verfassung zu geben. Das Bundesverfassungsgericht deutet darin an, dass nur die verfassunggebende Gewalt des Volkes – und nicht die politischen Organe allein – befugt wäre, den durch das Grundgesetz konstituierten Staat zu “entlassen”, d.h. seine Umwandlung in einen Bundesstaat Europa zu beschließen. Kurz gesagt: Eine europäische Bundesstaatlichkeit mit deutscher Beteiligung verlangt in Deutschland einen Akt der verfassungsgebenden Gewalt (Volksabstimmung über eine neue Verfassung), da die Grenzen des GG sonst überschritten würden.

1.3 Auswirkungen auf nationale Souveränität und demokratische Legitimation

Eine Vereinigte Staaten von Europa bedeuteten eine erhebliche Verlagerung der Souveränität von den Einzelstaaten auf die Union. Nationalstaaten würden zu Gliedstaaten in einem föderalen Europa. Dies hat weitreichende Konsequenzen: Parlamente und Regierungen der Mitgliedstaaten gäben Kompetenzen ab (z.B. in Außenpolitik, Verteidigung, Währung, Steuern) und ein großer Teil der Gesetzgebung würde auf europäischer Ebene erfolgen. Für die Bürger heißt das, dass politische Entscheidungen stärker durch EU-Organe statt durch nationale Institutionen getroffen würden. Damit diese neue Ordnung demokratisch legitimiert ist, müsste die EU föderale Strukturen erhalten, welche die Demokratie auf allen Ebenen gewährleisten. Ein Modell wäre eine Zweikammer-Struktur (z.B. ein starkes Europäisches Parlament als Volksvertretung und eine Kammer der Staaten als Bundesrat/Senat) sowie eine EU-Regierung, die vom Parlament gewählt oder bestätigt wird.

Die demokratische Legitimation steht hier zentral: In einem Bundesstaat Europa müsste das Prinzip „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ auf die EU-Ebene übertragen werden – das EU-Volk (alle Unionsbürger) wäre Träger der Souveränität, analog zum Staatsvolk in Bundesstaaten. Das ist aktuell nicht der Fall, da es formal kein einheitliches europäisches Staatsvolk gibt und die demokratische Legitimation der EU teils indirekt über die Nationalstaaten läuft

Eine europäische Verfassung könnte dieses Defizit beheben, indem sie die nationale Souveränität teilt und transformiert: Die Unionsbürger würden direkt über ihre EU-Institutionen (Parlament, evtl. direkt gewählten Präsidenten) die Herrschaftsausübung legitimieren. Die nationale Demokratie bliebe in den Gliedstaaten wichtig (ähnlich wie Bundesländer in Deutschland weiterhin eigene Zuständigkeiten haben), aber oberste Staatsgewalt läge bei der gemeinsamen europäischen Verfassung.

Eine Herausforderung ist, diese neue Legitimität praktisch herzustellen. Die Bevölkerung in jedem Mitgliedstaat müsste zustimmen, tatsächlich einen Teil ihrer bisherigen souveränen Entscheidungsgewalt an eine neue europäische Ebene abzugeben. Ohne breite Zustimmung bestünde die Gefahr einer Legitimationskrise. Daher müsste der Prozess offen, partizipativ und nachvollziehbar gestaltet werden, um Vertrauen zu schaffen. Andernfalls könnten Bürger die Veränderung als undemokratisch empfinden, was die Akzeptanz der neuen Ordnung untergraben würde.

1.4 Wege zur demokratischen Legitimation einer europäischen Verfassung

Um eine europäische Verfassung demokratisch zu legitimieren, kommen mehrere Wege in Betracht, die sich teils ergänzen:

  • Europäischer Verfassungskonvent: Analog zum Konvent 2002/2003, der den EU-Verfassungsentwurf erarbeitete, könnte ein neuer Konvent einberufen werden, bestehend aus Vertretern des Europäischen Parlaments, nationaler Parlamente, Regierungen und der Zivilgesellschaft. Dieser würde einen Verfassungsentwurf erarbeiten, idealerweise in öffentlichen Debatten. Bereits der frühere Verfassungskonvent mit Beteiligung u.a. von Altiero Spinelli diente als Modell für eine solche Beteiligung (Ventotene-Manifest und Haager Kongress lassen grüßen

    Wichtig ist, dass die Bürger über Wahlen (zum EP) oder direkte Teilnahme Gehör finden.


  • Volksabstimmungen in den Mitgliedstaaten: Da jede nationale Verfassung berührt wird, wäre es demokratisch geboten, die Bevölkerung direkt entscheiden zu lassen. In Deutschland etwa könnte eine Volksabstimmung nach Art. 146 GG eine neue Verfassung bestätigen, die die Mitgliedschaft in einem europäischen Bundesstaat vorsieht

    Andere Staaten müssten ihre eigenen verfassungsrechtlichen Verfahren nutzen (z.B. Referenden, wie sie in Frankreich und den Niederlanden 2005 über den EU-Verfassungsvertrag stattfanden). Eine koordinierte europaweite Volksabstimmung – gleichzeitig in allen Ländern – wäre ein starkes Signal der Legitimation, auch wenn sie formal in jedem Staat separat gemäß dessen Regeln durchgeführt würde.


  • Beschluss durch parlamentarische Supermehrheiten: Alternativ oder zusätzlich könnten die nationalen Parlamente mit qualifizierten Mehrheiten zustimmen. In Deutschland wäre eine Zweidrittelmehrheit für eine Grundgesetzänderung nötig, reicht aber bei grundlegender Änderung nicht aus (hier wäre wie gesagt ein neuer Verfassungsgesetzgebungsakt nötig). In anderen Ländern könnten Parlamentsentscheidungen eventuell genügen, sofern ihre Verfassung das zulässt. Allerdings gilt: Je direkter die Bürger einbezogen werden (z.B. Referendum), desto stärker die demokratische Legitimation dieser neuen europäischen Ordnung.

  • EU-weiter politischer Diskurs und Wahlen: Die Europawahlen könnten als indirektes Plebiszit über die Frage einer europäischen Verfassung dienen. Etwa wenn sich Parteien explizit mit dem Projekt „Vereinigte Staaten von Europa“ zur Wahl stellen und dafür ein Mandat bekommen. Ein Mandat des Europäischen Parlaments, das die Ausarbeitung einer Verfassung fordert, hätte politisches Gewicht – es könnte Druck auf die Regierungen ausüben, einen Verfassungsprozess zu starten. Denkbar wäre auch die direkte Wahl eines europäischen Verfassungskonvents oder die Abhaltung EU-weiter konsultativer Referenden, um den Willen der EU-Bürger zu ermitteln.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass eine europäische Verfassung nur bei transparenter, inklusiver Ausarbeitung und Zustimmung der Völker Europas demokratisch legitimiert wäre. Insbesondere in Deutschland verlangt das Grundgesetz für den Schritt in einen europäischen Bundesstaat ausdrücklich die Entscheidung des Volkes

Diese hohen Hürden bedeuten, dass ein solcher Schritt äußerst sorgfältig vorbereitet werden müsste.

2. Umsetzung innerhalb der bestehenden EU-Verträge

Nicht alle Ziele eines föderalen Manifests erfordern sofort eine neue Verfassung. Einiges lässt sich – zumindest teilweise – bereits im Rahmen der geltenden EU-Verträge verwirklichen. Dieser Ansatz vermeidet eine revolutionäre Umwälzung und setzt stattdessen auf schrittweise Integration durch Vertragsreformen oder neue Politiken. Im Folgenden wird untersucht, welche Manifest-Ziele schon jetzt oder durch moderate Vertragsänderungen erreichbar sind und wie realistisch solche Schritte politisch sind.

2.1 Mögliche Ziele  im aktuellen Vertragsrahmen

Ein Manifesto of the United States of Europe dürfte verschiedene Reformziele enthalten, etwa: eine stärker vergemeinschaftete Außen- und Sicherheitspolitik, eine gemeinsame Verteidigung (europäische Armee), eine vertiefte Wirtschafts-, Finanz- und Sozialunion, und eine demokratischere EU-Institutionenordnung (z.B. direkt gewählte Spitzenämter). Bei jedem dieser Punkte stellt sich die Frage, was davon ohne Vertragsbruch oder -neufassung umsetzbar ist:

  • Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP): Schon jetzt koordinieren die EU-Staaten ihre Außenpolitik im Rahmen der GASP. Allerdings sind Beschlüsse hier meist einstimmig und die EU besitzt keine eigene „Außenregierung“. Innerhalb der Verträge ließe sich das Gewicht der EU außenpolitisch erhöhen – etwa durch Nutzung von Passerelle-Klauseln, um einstimmige Beschlüsse in qualifizierte Mehrheitsentscheidungen umzuwandeln (sofern alle zustimmen). Auch könnte man den Posten des Hohen Vertreters stärken oder diplomatische Ressourcen bündeln. Eine echte einheitliche Außenpolitik mit EU-Außenminister und Mehrheitsentscheidungen würde aber wahrscheinlich eine Vertragsänderung erfordern, da sie die Souveränität in sensiblen Bereichen betrifft.

  • Europäische Verteidigungsunion/Armee: Der EU-Vertrag (Art. 42 EUV) erlaubt eine gemeinsame Verteidigung als Perspektive, beschlossen vom Europäischen Rat einstimmig. Aktuell gibt es „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ (PESCO), in der freiwillig teilnehmende Staaten ihre Streitkräfte verzahnen. Eine vollwertige EU-Armee unter einheitlichem Kommando ist im bestehenden Rahmen nicht vorgesehen – jedes Land behält die Kontrolle über seine Truppen. Allerdings könnten interessierte Staaten durch völkerrechtliche Verträge (außerhalb des EU-Rahmens, aber koordiniert mit der EU) bereits eine gemeinsame Streitkraft schaffen. Im EU-Vertrag selbst ließe sich via einstimmige Entscheidung eine engere Verteidigungsunion vereinbaren, doch dazu bräuchte es innenpolitisch breite Unterstützung. Ohne neue EU-Verfassung bliebe eine europäische Armee also auf kooperative Allianzen angewiesen, nicht auf einen verbindlichen Unionsbefehl.

  • Wirtschafts-, Finanz- und Fiskalunion: Einige Manifest-Forderungen betreffen wahrscheinlich eine gemeinsame Wirtschaftspolitik, europäische Steuern oder einen größeren EU-Haushalt. Im aktuellen Rahmen hat die EU bereits die Währungsunion (Euro) und gewisse Koordinierung der Wirtschaftspolitiken (Europäisches Semester). Eigenständige Steuererhebungsrechte der EU sind bislang stark begrenzt; die EU erhält Eigenmittel, aber neue Steuerarten erfordern die Zustimmung aller Mitgliedstaaten (Art. 311 AEUV). Teilweise kann man über Verordnungen im Steuerbereich etwas harmonisieren (z.B. MwSt.-Systemrichtlinien) – jedoch meist einstimmig. Ein neues EU-weit gültiges Steuerinstrument (etwa eine EU-Körperschaftsteuer) würde Vertragsänderungen oder einstimmige Beschlüsse voraussetzen. Dennoch wurden im Rahmen der bestehenden Verträge innovative Schritte unternommen: z.B. die Einrichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) durch einen völkerrechtlichen Vertrag parallel zu EU-Verträgen, oder das NextGenerationEU-Programm, mit dem die EU einmalig große Schulden aufnahm (auf Basis einer Auslegung von Art. 122 AEUV und einstimmigen Beschlüssen der Mitgliedstaaten). Solche Schritte zeigen, dass vertiefte Finanzintegration in gewissem Umfang möglich ist, solange alle Regierungen mitziehen. Eine echte Fiskalunion mit umfassender EU-Steuerhoheit bedarf aber wohl einer Änderung der Verträge und der nationalen Verfassungen (v.a. wegen Budgethoheit der Parlamente).

  • Sozial- und Bildungspolitik: Der EU-Vertrag lässt die Sozialpolitik weitgehend bei den Staaten, mit einigen Mindeststandards via Richtlinien. Eine „soziale Bundesunion“ mit einheitlichen Sozialsystemen ist kurz- bis mittelfristig kaum umsetzbar, aber punktuelle Integration ist möglich (etwa EU-Richtlinien zu Arbeitsrechten, Koordinierung der Sozialversicherung für mobile Bürger). Ähnlich verhält es sich mit Bildung oder Kultur – hier wahrt der EU-Vertrag die nationale Zuständigkeit. Man könnte jedoch Programme und Förderungen auf EU-Ebene ausbauen, ohne gleich alle Kompetenzen zu vergemeinschaften.

  • Demokratiereformen innerhalb der Verträge: Einige Reformvorschläge zielen auf die Demokratisierung ohne sofortige Bundesstaatsgründung. Beispiele: Spitzenkandidaten-Prinzip bei Europawahlen (die größten Parteibündnisse nominieren Kommissionspräsident-Anwärter, wodurch die Wahl indirekt über den Spitzenposten entscheidet) – dies wurde 2014 und 2019 erprobt, ist aber nicht verbindlich im Vertrag. Man könnte es durch interinstitutionelle Vereinbarungen stärken. Auch transnationale Listen für die Europawahl (Abgeordnete, die EU-weit gewählt werden) sind im Gespräch; hierfür wäre eine Änderung des Europawahlrechts nötig, aber kein völlig neuer Vertrag. Ferner könnte der Europäische Rat politisch zusagen, denKommissionspräsidenten stets aus der stärksten Fraktion des EP zu bestimmen, was einer faktischen Direktwahl nahekäme – ein politischer Brauch, der allerdings 2019 nicht strikt beachtet wurde. Innerhalb der bestehenden Verträge ließe sich zudem die Bürgerbeteiligung ausbauen (etwa Reform der Europäischen Bürgerinitiative, mehr Konsultationen). Insgesamt sind also einige Elemente des Manifests im geltenden Rahmen umsetzbar, wenn auch oft nur in bescheidenerem Umfang.

2.2 Erforderliche Vertragsänderungen ohne grundlegende Verfassungsreform

Für viele weitergehende Ziele, die über das derzeit Machbare hinausgehen, wären Vertragsänderungen nötig – jedoch noch keine völlig neue Verfassung, sondern Anpassungen der bestehenden Gründungsverträge (EUV/AEUV). Solche Änderungen erfolgen nach Art. 48 EUV im Konsens aller Mitgliedstaaten, typischerweise durch eine Regierungskonferenz und anschließende Ratifikation in jedem Land. Denkbare punktuelle Vertragsänderungen, um dem Manifest schrittweise näherzukommen, sind zum Beispiel:

  • Abschaffung einzelner Einstimmigkeitserfordernisse: Man könnte bestimmte Politikbereiche vom Einstimmigkeits- zum Mehrheitsprinzip überführen (z.B. Außenpolitik, Steuern). Hierzu wäre eine Änderung der einschlägigen Vertragsartikel oder Nutzung der Passerelle (Art. 48 Abs. 7 EUV) möglich, wobei Letztere ebenfalls Einstimmigkeit erfordert. Wenn z.B. alle Staaten zustimmen, könnten sie festlegen, dass der Rat außenpolitisch mit qualifizierter Mehrheit entscheidet. Dies wäre ein großer Schritt zur Handlungsfähigkeit, aber politisch sensibel.

  • Erweiterung der EU-Kompetenzen: Der Vertrag könnte um neue Zuständigkeiten ergänzt werden, etwa in Gesundheitsfragen (Lehre aus der Pandemie) oder sozialen Mindeststandards. Eine moderne Anpassung könnte der EU ausdrücklich Befugnisse für Klimaschutz, Digitalisierung oder innere Sicherheit in größerem Umfang geben. Diese neuen Kompetenzen müssten klar begrenzt und demokratisch kontrolliert werden (um mit dem BVerfG vereinbar zu sein). Eine solche Reform wäre noch innerhalb des EU-Vertragsrahmens möglich, sofern alle Staaten sie ratifizieren.

  • Stärkung des Europäischen Parlaments: Vertragsänderungen könnten dem EP mehr Rechte verleihen, z.B. volles Initiativrecht für Gesetzgebung (derzeit liegt das Initiativmonopol bei der Kommission), oder ein Zustimmungsrecht in Bereichen, wo es bislang ausgeschlossen ist. Auch die Wahl des Kommissionspräsidenten könnte formal vom Europäischen Parlament ausgehen, anstatt vom Europäischen Rat vorgeschlagen zu werden – hierzu wäre eine Änderung von Art. 17 Abs. 7 EUV denkbar. Solche Reformen würden die EU demokratischer machen, ohne dass man gleich eine komplett neue Verfassungsstruktur schafft.

  • Institutionelle Neujustierungen: Ohne gleich einen Bundesstaat auszurufen, könnten Verträge den Ministerrat (Rat der EU) und den Europäischen Rat anders gewichten (etwa den Europäischen Rat entmachten zugunsten der Kommission bei Initiativen) oder einen EU-Finanzministerposten schaffen, der in den Verträgen verankert wird. Auch die Zusammenlegung des Präsidentenamts von Kommission und Europäischem Rat („Doppelhut“) wurde diskutiert, was Vertragsänderungen erfordern würde.

Diese und ähnliche Änderungen wären formal im Rahmen des Art. 48 EUV möglich. Wichtig ist, dass sie keine Totalrevision darstellen, sondern einzelne Aspekte verbessern. Damit bliebe die EU ein Staatenverbund, nähme aber mehr bundesstaatliche Züge an. Jede dieser Änderungen müsste jedoch einstimmig beschlossen werden und in allen Ländern innenpolitisch durchsetzbar sein – was oft der größte Stolperstein ist.

Abschließende Bewertung 

Die Verwirklichung der Vereinigten Staaten von Europa steht vor enormen rechtlichen und demokratischen Herausforderungen. Rechtlich zeigt die Analyse, dass eine echte europäische Verfassung mit bundesstaatlicher Struktur zwar möglich ist, aber nur außerhalb des geltenden Rahmens: In Deutschland verlangt dies einen verfassunggebenden Akt des Volkes und ähnlich hohe Hürden existieren in anderen Ländern. Das Grundgesetz und das BVerfG setzen klare Schranken – ein Bundesstaat Europa braucht die Zustimmung der europäischen Völker, nicht nur der Regierungen. Demokratisch wäre ein solcher Schritt nur legitim, wenn die Bürger ihn mittragen, sei es durch Referenden oder konkludent über Wahlen.

Im Rahmen der bestehenden Verträge können bereits einige föderale Elemente umgesetzt werden (mehr Befugnisse fürs Europaparlament, verstärkte Zusammenarbeit in Verteidigung, usw.), doch stoßen diese Maßnahmen an Grenzen, wenn sie die in den Verträgen verankerte Staatenkompetenzen überschreiten würden. 

Die EU könnte durch Vertragsreformen demokratischer und effizienter werden und eine Gruppe williger Staaten könnte ggf. vorangehen und Kernstrukturen einer Föderation vormachen. Dies würde die Türe für eine spätere förmliche Verfassung offenhalten.

Insgesamt gilt: Die Vision der Vereinigten Staaten von Europa kann nur verwirklicht werden, wenn rechtliche Barrieren durch entsprechende verfassungsändernde Entscheidungen überwunden und demokratische Legitimationsverfahren konsequent genutzt werden. Bis dahin bleibt die Maxime, im Rahmen des Möglichen Fortschritte zu erzielen, ohne die Demokratie zu untergraben. Die Erfolgschance steigt mit jedem Beweis, dass europäische Integration den Bürgern nützt und demokratisch gestaltet werden kann – und nur auf dieser Grundlage lässt sich die große föderale Lösung erreichen.

Foto(s): shuttersstock

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