Zur Bildung des Gesamt-GdB im Schwerbehindertenrecht: 30+30=30, 40 oder 50!

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Beeinträchtigen gleich mehrere Gesundheitsstörungen die Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft, stellt sich die Frage, wie aus den einzelnen Funktionsstörungen der Grad der Behinderung (Gesamt-GdB) zu bilden ist.

Keine Rechenoperation bitte!

Der Gesamt-GdB darf weder durch Addition noch durch sonst eine Rechenmethode ermittelt werden. Vielmehr ist er „nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen zueinander“ festzustellen (§ 152 Abs. 3 Satz 1 SGB IX).

Nach der Versorgungsmedizinverordnung (VersMedV) ist dabei ausgehend von der führenden Beeinträchtigung zu prüfen, ob und inwieweit durch weitere Gesundheitsstörungen das Ausmaß der Behinderung größer wird (Teil A Nr. 3 c) der Anlage zu § 2 VersMedV).

Beispiel: Es werden zwei Funktionsbeeinträchtigungen jeweils mit einem Einzel-GdB von 30 ermittelt. Wird durch die zweite Einschränkung das Gesamtausmaß der Behinderung größer?

Welcher Gesamt-GdB ist richtig?

Um beurteilen zu können, welcher Gesamt-GdB „richtig“ ist, muss man sich bewusstmachen, dass die Beziehungen der einzelnen Gesundheitsstörungen zueinander unterschiedlich sein können.

Die Auswirkungen von Beeinträchtigungen können sich überschneiden und identische Bereiche im Ablauf des täglichen Lebens betreffen. Bei einer kompletten Überschneidung wird die überschneidende Behinderung nicht berücksichtigt.

Beispiel: Eine Lähmung der Wadenmuskulatur und eine Versteifung des Fußgelenkes am selben Bein (Einzel-GdB jeweils 30). Angesichts der Lähmung ist eine aktive Fußhebung nicht mehr möglich, die Versteifung des Sprunggelenkes hat funktionell keine Bedeutung. Der Gesamt-GdB beträgt 30. Bei einer teilweisen Überschneidung können überschneidende Funktionsbehinderungen in geringem Umfang Berücksichtigung finden.

Beispiel: Für eine Herzerkrankung und eine Einschränkung der Lungenfunktion wird jeweils ein Einzel-GdB von 30 ermittelt. Die Leistungsfähigkeit ist bereits durch die Herzerkrankung vermindert, so dass sich das Lungenleiden nur noch wenig auswirkt. Der Gesamt-GdB beträgt 40.

Die Auswirkungen von Funktionsbeeinträchtigungen können voneinander unabhängig sein und jeweils unterschiedliche Abläufe im täglichen Leben betreffen. Beispiel: Bei einem Diabetes mellitus und einer Hörminderung sind unterschiedliche Funktionen (Stoffwechsel/Kommunikation) betroffen. Die führende Behinderung ist angemessen zu erhöhen. Wieder ausgehend von zwei Einzel-GdB von 30, wäre ein Gesamt-GdB von 40 oder 50 festzustellen. Im Streitfall ist insbesondere hier Argumentation gefragt.

Letztlich können sich Behinderungen gegenseitig ungünstig beeinflussen bzw. verstärken.

Beispiel: Bei einem Lendenwirbelsäulenschaden muss sich der Betroffene rückenschonend verhalten und z. B. beim Heben von Gegenständen „in die Knie“ gehen. Sind gleichzeitig deutliche Kniegelenksschäden nachgewiesen, ist diese Art der Kompensation nicht möglich. Bei zwei Einzel-GdB von 30 kann ein Gesamt-GdB von 50 festgestellt werden.

Die Besonderheiten der „leichten Funktionsbeeinträchtigungen“

Leichte Gesundheitsstörungen, die lediglich einen Einzel-GdB von 10 rechtfertigen, führen im Regelfall nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Behinderung und damit nicht zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB (40 + 10 + 10 = 40).

Auch bei leichten Funktionsstörungen, die mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet werden, soll es nach der Versorgungsmedizinverordnung „vielfach“ nicht gerechtfertigt sein, auf eine Zunahme des Gesamtausmaßes der Behinderung zu schließen (40 + 20 = 40). Die Funktionsstörung mit dem Einzel-GdB von 20 führt aber jedenfalls dann zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB (40 + 20 = 50 oder 30 + 20 + 20 = 50), wenn sich die Beeinträchtigungen negativ aufeinander auswirken (Landessozialgericht Berlin-Brandenburg – Urteil vom 26.04.2016 – L 13 SB 228/14).

Fazit

Beim Vorliegen gleich mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen stellt sich die Bildung des Gesamt-GdB als komplexer Vorgang dar. Mathematische Fähigkeiten sind dabei nicht gefragt. Vielmehr gilt es im Rahmen einer Gesamtschau herauszuarbeiten, welche Auswirkungen die einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen aufeinander haben. Bei „leichten“ Gesundheitsstörungen sind Besonderheiten zu beachten. Es kommt aber immer auf die Umstände Ihres persönlichen Einzelfalles an.

Beachten Sie bitte, dass dieser Beitrag der allgemeinen Information dient und eine individuelle Beratung im Einzelfall nicht ersetzen kann.


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