Arbeitsrecht aktuell: 243 Krankheitstage – Amazon kündigt Versandmitarbeiter
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Der Fall vor dem Arbeitsgericht Lüneburg im Detail
Das Arbeitsgericht Lüneburg befasst sich derzeit mit einem Fall, der beispielhaft zeigt, wie komplex krankheitsbedingte Kündigungen im deutschen Arbeitsrecht sind. Ein 36-jähriger Versandmitarbeiter des Amazon-Logistikzentrums Winsen (Luhe) klagt gegen seine ordentliche Kündigung – und macht erhebliche Ansprüche geltend. Die juristische Auseinandersetzung wirft wichtige Fragen zur Wirksamkeit von krankheitsbedingten Kündigungen auf.
Ausgangslage: Überdurchschnittliche Fehlzeiten führen zur Kündigung
Amazon begründete die Kündigung damit, dass der Kläger innerhalb von nur drei Jahren insgesamt 243 Krankheitstage aufwies – eine Zahl, die weit über dem Durchschnitt liegt. Hinzu kommen bereits 30 Krankheitstage im laufenden Jahr 2025. Die Verteilung der Fehltage:
2022: 60 Krankheitstage
2023: 55 Krankheitstage
2024: 128 Krankheitstage
2025 (bis Februar): 30 Krankheitstage
Am 5. Februar 2025 sprach Amazon eine ordentliche, personenbedingte Kündigung aus – mit Wirkung zum 30. April 2025.
Rechtlicher Hintergrund: Wann ist eine krankheitsbedingte Kündigung zulässig?
Krankheitsbedingte Kündigungen sind juristisch besonders anspruchsvoll. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) müssen vier Voraussetzungen erfüllt sein:
1. Negative Gesundheitsprognose
Es muss absehbar sein, dass der Arbeitnehmer auch künftig in erheblichem Umfang krankheitsbedingt fehlen wird. Die Vergangenheit liefert dabei den maßgeblichen Anhaltspunkt: Häufige Kurzzeiterkrankungen über mehrere Jahre oder lange Dauererkrankungen können eine negative Prognose rechtfertigen.
Hier: 243 Fehltage in drei Jahren sprechen zunächst für eine deutliche negative Prognose.
2. Erhebliche betriebliche Beeinträchtigung
Die Fehlzeiten müssen zu spürbaren betrieblichen Belastungen führen, etwa:
Störungen der betrieblichen Abläufe
Erhöhte Vertretungskosten
Überstundenbelastung anderer Arbeitnehmer
Finanzielle Belastung durch wiederholte Entgeltfortzahlungen
Besonderheit hier: Amazon musste dem Mitarbeiter die Entgeltfortzahlung überdurchschnittlich oft leisten. Üblicherweise endet diese nach sechs Wochen pro Krankheitsfall – hier lagen aber offenbar mehrere eigenständige Erkrankungen vor.
3. Interessenabwägung
Es muss eine Abwägung erfolgen: Überwiegt das Interesse des Arbeitgebers an der Beendigung des Arbeitsverhältnisses gegenüber dem Bestandsschutzinteresse des Arbeitnehmers? Kriterien:
Dauer der Betriebszugehörigkeit
Alter des Arbeitnehmers
Art und Ursache der Erkrankungen
Bisherige Leistung und soziale Schutzwürdigkeit
Im vorliegenden Fall: Der Kläger ist relativ jung (36 Jahre) und erst seit 2019 bei Amazon beschäftigt. Diese Faktoren könnten die Kündigung stützen.
4. Erforderlichkeit eines betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM)
Arbeitgeber sind verpflichtet, ein BEM durchzuführen (§ 167 Abs. 2 SGB IX), wenn ein Mitarbeiter innerhalb eines Jahres länger als sechs Wochen arbeitsunfähig ist. Das BEM soll klären, wie die Arbeitsunfähigkeit überwunden und das Arbeitsverhältnis erhalten werden kann.
Fehler im BEM-Verfahren können die Kündigung zwar nicht automatisch unwirksam machen, erhöhen aber die Darlegungs- und Beweislast des Arbeitgebers erheblich.
Offen im Prozess: Ob Amazon ein BEM angeboten und ordnungsgemäß durchgeführt hat, ist noch unklar.
Der gerichtliche Verlauf: Gütetermin vor dem Arbeitsgericht Lüneburg
Beim Gütetermin stellte Richter Finn Altmüller fest, dass es sich um einen offenen Rechtsstreit handelt. Eine schnelle Einigung war nicht in Sicht.
Amazon bot 10.000 Euro Abfindung.
Der Mitarbeiter forderte knapp 28.000 Euro.
Der Richter wies darauf hin, dass üblicherweise Abfindungen in Höhe von etwa 0,5 Bruttomonatsgehältern pro Beschäftigungsjahr gezahlt werden. Bei einem Monatsgehalt von rund 3000 Euro und einer Betriebszugehörigkeit seit 2019 läge die übliche Abfindung bei etwa 9.000 bis 10.000 Euro – also deutlich unter der Forderung des Klägers.
Konsequenz: Da keine Einigung erzielt werden konnte, wird im August 2025 eine streitige Kammerverhandlung stattfinden.
Besonderheiten dieses Falls
Mehrere Aspekte machen den Fall besonders:
Hohe wirtschaftliche Belastung für Amazon: Die wiederholte Pflicht zur Entgeltfortzahlung stellt eine erhebliche wirtschaftliche Belastung dar.
Ursachen der Erkrankungen: Der Kläger beruft sich auf eine Fußverletzung durch lange Laufwege bei der Arbeit – Amazon hingegen argumentiert, dass Roboter den größten Teil der Transportarbeiten übernehmen.
Risikoanalyse: Für Amazon besteht das Risiko, dass das Gericht die Kündigung für unwirksam erklärt. Der Kläger wiederum riskiert, am Ende ohne Abfindung und Arbeitsplatz dazustehen.
Rechtliche Einordnung: Was bedeutet der Fall für die Praxis?
Für Arbeitgeber:
Krankheitsbedingte Kündigungen sind auch bei hohen Fehlzeiten stets mit Risiken verbunden.
Ein ordentlich durchgeführtes BEM ist dringend zu empfehlen.
Die Dokumentation der betrieblichen Belastungen ist essenziell.
Für Arbeitnehmer:
Auch bei hohen Fehlzeiten bestehen Schutzrechte.
Eine krankheitsbedingte Kündigung ist an strenge Voraussetzungen gebunden.
Eine sorgfältige medizinische Dokumentation und Begründung der Erkrankungen sind entscheidend.
Ausblick: Wie geht es weiter?
In der für August 2025 angesetzten Kammerverhandlung wird insbesondere die Diagnoseliste der Krankenkasse entscheidend sein. Diese soll Aufschluss darüber geben, ob eine Vielzahl eigenständiger Krankheiten oder eine überdauernde Grunderkrankung vorliegt.
Das Arbeitsgericht Lüneburg wird dann eine umfassende Prüfung der Gesundheitsprognose und der Interessenabwägung vornehmen. Eine genaue Bewertung des BEM-Verfahrens könnte ebenfalls eine zentrale Rolle spielen.
Eine Einigung zwischen den Parteien bleibt weiterhin möglich – etwa durch Nachbesserung des Abfindungsangebots.
Fazit
Der Fall vor dem Arbeitsgericht Lüneburg verdeutlicht, dass krankheitsbedingte Kündigungen auch in Großbetrieben wie Amazon keineswegs Routine sind. Arbeitgeber müssen ihre Entscheidung auf eine fundierte negative Gesundheitsprognose und erhebliche betriebliche Belastungen stützen. Arbeitnehmer sollten ihrerseits rechtzeitig ihre Rechte kennen und aktiv verteidigen. Der Ausgang des Verfahrens wird in jedem Fall wichtige Signale für die arbeitsrechtliche Praxis setzen.
Rechtsanwalt & Fachanwalt für Arbeitsrecht Dr. jur. Jens Usebach LL.M. von der kanzlei JURA.CC bearbeitet im Schwerpunkt das Kündigungsschutzrecht im Arbeitsrecht. Der Fachanwalt für Arbeitsrecht vertritt Mandanten außergerichtlich bei Aufhebungsverträgen und Abwicklungsverträgen bei der Kündigung des Arbeitsvertrages durch den Arbeitgeber. Soweit erforderlich erfolgt eine gerichtliche Vertretung bei der Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht mit dem Ziel für den Arbeitnehmer eine angemessene und möglichst hohe Abfindung für den Verlust des Arbeitsplatzes, ein sehr gutes Arbeitszeugnis für zukünftige Bewerbungen oder auch die Rücknahme der Kündigung und die Weiterbeschäftigung zu erzielen.
Mehr Informationen unter www.JURA.CC oder per Telefon: 0221-95814321
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