Bei den Lehman-Prozessen sind die Prospekte von Amts wegen zu prüfen

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In den ersten beiden Lehman-Verfahren vor dem Bundesgerichtshof hatte das unterlegene Institut zum Verhandlungstermin am 12.04.2011 das Rechtsmittel zurück genommen. Es ging hier um Twin-Win Zertifikate und Kupon Zertifikate. Dieses ist ein positives Zeichen.

In den anderen noch schwebenden Verfahren sind die folgenden Gesichtspunkte von Belang.

Wertpapierprospektgesetz

Bei den Lehman-Zertifikaten kommt es zunächst auf die Prospekterstellung nach dem Wertpapierprospektgesetz (WpPG) an. Sehr oft lag der Prospekt in den laufenden Verfahren nicht vor. Gelesen wurde er fast nie und von fast niemandem. Bei Finanzinstrumenten ist das deutsche Kommissionsrecht in Bezug auf die Vergütung EU-rechtlich grundsätzlich abg”eschafft. Auch diese Tatsache wird manchmal undeutlich wahrgenommen. Dabei würde ein Anruf bei der BaFin (Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht) genügen. Nur noch Ausnahmen sind möglich, § 31 d WpHG. Aber auch dieser Anruf wird häufig unterlassen.

In einem Segment, in dem es darauf ankommt, die Software weiterzuentwickeln, um im Wertpapier- und Derivatenhandel Gewinnvorsprünge in Millionstelsekunden von ultraschnellen Computern abwickeln zu lassen, kommt mehrere Jahre alten Informationsvehikeln wie Prospektinformationen eine allgemeine Bedeutung zu. Sowohl AGB-Bedingungen (in den Prospekten) müssen von Amts wegen geprüft werden (EuGH-Urt. v. 04.06.2009, C-243/08, der Prospekt seiner Kernaussage nach ebenfalls - BGH-Urteil vom 6.03. 2008, III ZR 298/05 - es kommt auf den Gewinne versprechenden Leitgedanken des Prospektes an, nicht auf das Wort).

Allerdings ist ein Gericht an die Präjudizien des Bundesgerichtshofes nicht gebunden, was bekannt sein muss. Auch ein vermeintlich falsches Urteil kann revisionsrechtlich unangreifbar sein, wenn die Überzeugungsbildung des Gerichts vertretbar ist.

Kurzprospekt (Flyer)

Bei dem Kurzprospekt (Flyer) bzw. den schriftlichen Unterlagen der Beklagten blühte bei den Lehman-Prozessen allerdings unvermittelt die bürgerlich-rechtliche Prospekthaftung wieder auf - nicht selten unerkannt. Dieser Prospekt unterliegt nicht dem Wertpapierprospektgesetz. Die bürgerlich-rechtliche Prospekthaftung schien nach dem Verkaufsprospektgesetz und dem Wertpapierprospektgesetz im Schrifttum 2005 erledigt. Sie galt allerdings noch für solche prospektähnlichen Gestaltungen, die nicht dem im Wertpapiergesetz unterlagen. Dazu gehören auch die Flyer.

§ 255 Abs. 4 Satz 2 HGB - das Orakel von Delphi statt Wertbestimmung

§ 255 Abs. 4 Satz 2 HGB regelt den Wert von Finanzinstrumenten. Besteht für eine Liquiditätsfazilität kein aktiver Markt, wie meistens, anhand dessen sich ein Marktpreis ermitteln lässt, ist der beizulegende Zeitwert mithilfe allgemein anerkannter Bewertungsmethoden (z.B. Black/Scholes-Modell, Discounted-Cashflow-Modell) zu bestimmen, § 255 Abs. 4 Satz 2 HGB. Hierüber wurde der Erwerber von Lehman-Zertifikaten meisten nicht informiert. In den meisten Fällen waren die Anbieter nicht in der Lage, einen konzeptionellen Vergleich der Wertmaßstäbe nach HGB und IFRS hinsichtlich der Informationsfunktionen der Rechnungslegung bei den Finanzinstrumenten vorzulegen. Mit anderen und einfachen Worten also musste über den Nullwert der Lehman-Instrumente aufgeklärt werden. Denn § 255 Abs. 4 Satz 2 HGB ermöglicht Phantasiewerte.

Insolvenzrisiko war wegen der „off balance sheet arrangements akut

In Bezug auf die Insolvenzrisiken bei Lehman Brothers musste über den verschleiernden Charakter der unzähligen Zweckgesellschaften von Lehman Brothers aufgeklärt werden. Aufgabe der Zweckgesellschaften von Lehman war es, bedeutende Risiken der Geschäftstätigkeiten durch so genannte „off balance sheet arrangements" aus den Abschlüssen fernzuhalten. Untersuchungsergebnisse in Verbindung mit Lehman Brothers deuteten auf eine aggressive Nutzung von off balance sheet arrangements in deren US-GAAP-Abschlüssen hin (Prof. Dr. Gassen u.a., Das Konzept der rechnungslegenden Einheiten nach ED/2010/2, Die Wirtschaftsprüfung, 2010, S. 805). Bei Lehman Brothers dienten die zahlreichen Zweckgesellschaften der Insolvenzverschleierung. In Bezug auf die Einschätzung des Chancen-Risiken-Ansatzes erschienen damit vermeidbare konzeptionell Risiken angelegt zu sein, über die hätte informiert werden müssen. Mit anderen einfachen Worten war also dem Kleinanleger der Hinweis geschuldet gewesen, das Insolvenzrisiko bei Lehman nicht beurteilen zu können.

Vorgeschäfte unwichtig für die Fragen der Kundenerfahrung

Maßgeblich ist das konkrete Risiko, keine Nachbarrisiken (Vorgeschäfte). Nach dem BGH-Urteil vom 22.3.2010 (II ZR 66/08) kommt es bei der Beurteilung des beanstandeten Risikos auf das Verhalten in Bezug auf weitere Risiken nicht an: „Um die Kausalitätsvermutung zu widerlegen, muss der Aufklärungspflichtige darlegen und beweisen, dass der Anleger den unterlassenen Hinweis unbeachtet gelassen hätte. Die Annahme des Berufungsgerichts, die Klägerin habe auch andere Risiken hingenommen, so dass sie durch dieses weitere Risiko nicht von der Zeichnung der Anlage abgehalten hätte, genügt dazu nicht. Ein solcher Schluss ist nicht tragfähig."

Rückzahlungen: eigenes Geld oder echte Gewinne

Ungelöst ist bei den Zertifikaten auch die Frage nach dem Gewinn im Rechtssinne. Nicht jede Ausschüttung ist Gewinn. Es kann sich hier auch um die Rückzahlung des eigenen Geldes oder des Geldes anderer handeln.

Zur Frage des Ersatzes durch Entschädigungseinrichtung

In einigen Fällen wurde gemeint, der Kunde hätte darüber aufgeklärt werden müssen, dass im Falle des Zahlungsausfalles eine Entschädigungseinrichtung nicht zahle. Hier ist Vorsicht vor Verallgemeinerungen geboten. Bei Derivaten ist die EdW vom Landgericht Berlin mehrfach zur Entschädigung verurteilt worden. Diese Rechtsprechung ist vom BGH prinzipiell bestätigt worden.

Lehman-Zertifikate nur Spitze des Eisberges

In vielen Lehman-Prozessen soll mit anderen Zertifikatsverträgen eine Kundenerfahrung belegt werden. Die Lehman-Zertifikate dürften nur 10 % des Gesamtverlustes ausmachen. Die Rechtsfragen um die Zertifikatsverluste sind daher noch nicht abschließend gelöst.

Bei Vergleichen Nachbesserungen möglich

Bei zahlreichen geschlossenen Vergleichen war die Position der Geschädigten im Regelfall nachvollziehbar. Aber ein Vertrag, durch den der Streit oder die Ungewissheit der Parteien über ein Rechtsverhältnis im Wege gegenseitigen Nachgebens beseitigt wird (Vergleich), ist allerdings unwirksam, wenn der nach dem Inhalt des Vertrags als feststehend zugrunde gelegte Sachverhalt der Wirklichkeit nicht entspricht und der Streit oder die Ungewissheit bei Kenntnis der Sachlage nicht entstanden sein würde. In vielen Fällen war dieses der Fall gewesen. In solchen Fällen sind weitere Nachbesserungen angezeigt.


Rechtstipp aus den Rechtsgebieten

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