Kündigung und Krankschreibung – zum Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung am Arbeitsvertragsende
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Wer als Arbeitnehmer krank ist und dies durch die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung eines Arztes („Krankenschein“) nachweisen kann, der erhält in aller Regel 6 Wochen lang Gehaltsfortzahlung durch seinen Arbeitgeber (§ 3 EFZG). In der Praxis bestehen seitens der Arbeitgeber zwar oftmals mehr oder weniger begründete Zweifel daran, dass der Arbeitnehmer tatsächlich krank ist. Normalerweise spielen solche – oft rein subjektiven – Zweifel allerdings rechtlich keine Rolle, weil einer von einem Arzt ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach der Rechtsprechung ein hoher Beweiswert zukommt. Durch bloßes Bestreiten der Arbeitsunfähigkeit kann der Arbeitgeber daher seine Pflicht zur Gehaltsfortzahlung nicht abwenden. Er muss vielmehr zunächst den sog. „Beweiswert" der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung „erschüttern“ – indem er tatsächliche Umstände darlegt und ggf. beweist, die objektive Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben (z.B. die vorherige Ankündigung des Arbeitnehmers, „krank zu machen“). Nur wenn ihm diese „Erschütterung“ gelingt, verliert die ärztliche Bescheinigung ihren Beweiswert – mit der Folge, dass nunmehr der Arbeitnehmer darlegen und ggf. beweisen muss, dass er tatsächlich krank war (z.B. durch das Zeugnis seines Arztes).
Hohe praktische Bedeutung kommt diesen Grundsätzen zu, wenn sich der Arbeitnehmer im Zusammenhang mit einer Kündigung – und dem somit sicher bevorstehenden Ende des Arbeitsverhältnisses – krankmeldet. Hierzu hat sich in der arbeitsgerichtlichen Rechtsprechung in den letzten beiden Jahren Einiges getan, und die Entwicklung ist noch in vollem Gange. Derzeit scheinen sich folgende Linien herauszubilden:
(1) Kündigung durch Arbeitnehmer und (gleichzeitige) Krankmeldung bis zum Ende des Arbeitsvertrages: In der Praxis häufig anzutreffen ist der Fall, dass ein Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis kündigt und (gleichzeitig) eine „passgenaue“ ärztliche Krankschreibung bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses einreicht. Wer z.B. als Arbeitnehmer in der Probezeit – in der normalerweise eine 2-wöchige Kündigungsfrist gilt – am 08.02. sein Arbeitsverhältnis mit Wirkung zum 22.02. kündigt und gleichzeitig eine ärztliche Krankschreibung vom 08.-22.02. einreicht, der kann sich in aller Regel nicht (mehr) auf den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung berufen (BAG Urt. v. 08.09.2021 - 5 AZR 149/21). Er muss dann vielmehr konkret darlegen und beweisen, dass er tatsächlich krank war.
Dies kann nach einer neueren Entscheidung des LAG Schleswig-Holstein (Urt. v. 02.05.2023 – 2 Sa 203/22) auch bei mehreren aneinander gereihten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen gelten, aus denen sich faktisch im Wesentlichen ein Gesamtkrankheitszeitraum vom Einreichen der Kündigung bis zum Ende des Arbeitsvertrages ergibt. Dies soll zumindest dann der Fall sein, wenn sich aus der Formulierung des Kündigungsschreibens ergibt, dass der Arbeitnehmer nicht die Absicht hat, nochmals in den Betrieb zurückzukehren.
Demgegenüber sah das LAG Mecklenburg-Vorpommern (Urt. v. 15.08.2023 – 5 Sa 12/23) keinen Anlass für eine „Erschütterung“ des Beweiswerts von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen in einem Fall, in dem der Arbeitnehmer am 29.04.2022 (Freitag) die Kündigung zum 31.05.2022 eingereicht hatte und sich dann durch zwei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die vom 02.05.2022 (Montag) bis 31.05.2022 reichten, krankmeldete. Zur Begründung führte das Gericht aus, dass der Arbeitnehmer sich eben nicht zeitgleich mit der Kündigung krankgemeldet habe, sondern erst am darauffolgenden Montag (nachdem der Arbeitgeber noch am Freitagabend alle Arbeitsmittel vom Arbeitnehmer herausverlangt und diesem angeblich einen „Spießrutenlauf“ angekündigt hatte). Der Arbeitnehmer habe bei der Kündigung auch nicht auf andere Art und Weise zu erkennen gegeben, keinerlei Arbeitsleistung mehr für den Arbeitgeber erbringen zu wollen. Der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sei auch nicht allein deshalb „erschüttert“, weil diese (nach der vom Arzt zu stellenden Prognose der voraussichtlichen Krankheitsdauer) genau bis zum 31.05.2022 reichten und der Arbeitnehmer dann (offenbar wieder gesund und arbeitsfähig) am 01.06.2022 eine neue Stelle angetreten habe; die ärztlichen Feststellungen würden dadurch nicht rückwirkend in Zweifel gezogen.
Auch das LAG Köln (Urt. v. 10.08.2023 – 6 Sa 682/22) betont, dass mehrdeutige Sachverhalte, die aber plausibel erklärbar sind, grundsätzlich ungeeignet seien, ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu begründen. Daher lehnte es die „Erschütterung“ des Beweiswerts in dem zu entscheidenden Fall ab. Eine Arbeitnehmerin hatte nach einem sehr streitigen und hochemotionalen Personalgespräch, das am 18.01.2022 stattgefunden hatte, am 19.01.2022 die Kündigung zum 28.02.2022 sowie eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 19.01.-02.02.2022 eingereicht, die von ihrer Ärztin dann für die Zeit bis zum 16.02.2022 verlängert wurde. Am 17.02.2022 erschien die Arbeitnehmerin im Betrieb, nahm dann aber vom 17.-23.02.2022 Urlaub. Ab dem 24.02.2022 war sie (bis weit über das Ende des Arbeitsverhältnisses hinaus) in stationärer Behandlung, offenbar wegen einer bereits vorher latent vorhandenen Depressionserkrankung.
(2) Kündigung durch Arbeitgeber und Krankmeldung des Arbeitnehmers bis zum Ende des Arbeitsvertrages: Wird der Arbeitnehmer unmittelbar nach einer vom Arbeitgeber ausgesprochenen Kündigung krank, so kann diese „Reaktion“ angesichts des zeitlichen Zusammenhangs u.U. eventuell ebenfalls vernünftige Zweifel an der Richtigkeit der ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründen. Es kommt aber immer auf die Umstände des Einzelfalles an. Zu beachten ist insbesondere, dass eine (unerwartete) Kündigung durch den Arbeitgeber beim Arbeitnehmer oftmals schockierende Wirkung hat, Existenzängste auslöst und erfahrungsgemäß nicht selten auch zu Krankheitszuständen führt. Eine ärztlich feststellbare Erkrankung in Folge einer erhaltenen Kündigung ist daher jedenfalls im Grundsatz plausibel und nachvollziehbar; die Diagnose muss der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber ja bekanntlich nicht mitteilen. Daher dürfte auch hier der zeitliche Zusammenhang für sich genommen in aller Regel nicht genügen, um eine „Erschütterung“ des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu rechtfertigen. Etwas Anderes dürfte in der Praxis in der Regel nur anzunehmen sein, wenn weitere Umstände hinzutreten, wenn z.B. der Arbeitnehmer als Reaktion auf die erhaltene Kündigung eine Krankheit „ankündigt“ oder wenn die (vom Arbeitnehmer von sich aus offengelegte) Krankheit ganz offensichtlich nichts mit den typischen (psychischen/psychosomatischen) Belastungsreaktionen zu tun hat, die eine Arbeitgeberkündigung mitunter auslöst.
Ganz anders gelagert sein dürfte der Fall, dass sich zunächst der Arbeitnehmer krankmeldet und erst daraufhin als Reaktion vom Arbeitgeber die Kündigung erhält. Dies hat jedenfalls das LAG Niedersachsen (Urt. v. 08.03.2023 – 8 Sa 859/22) so in einem Fall ausgesprochen, in dem der Arbeitnehmer anschließend zwei weitere ärztliche Folgebescheinigungen eingereicht hatte, die genau bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses reichten. Hier fehle es, so das Gericht, an objektiv begründbaren Zweifeln an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, denn zuerst habe sich der Arbeitnehmer krankgemeldet, und erst dann habe der Arbeitgeber gekündigt. Die Krankmeldung sei folglich nicht durch die Kündigung motiviert gewesen. Für die Fortsetzung dieser Krankheit, dokumentiert durch die beiden Fortsetzungsbescheinigungen, könne dann nichts Anderes gelten. Allein die Tatsache, dass ein Arbeitnehmer bis zur Beendigung eines Arbeitsverhältnisses arbeitsunfähig krankgeschrieben sei, am unmittelbar darauffolgenden Tag gesundet und bei einem anderen Arbeitgeber zu arbeiten beginnt, erschüttere in der Regel ohne Hinzutreten weiterer Umstände den Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen nicht. Zu diesem Fall steht allerdings demnächst noch die Revisionsentscheidung des BAG an (Az.: 5 AZR 137/23).
Fazit und Zusammenfassung: Bei der Beurteilung, ob vernünftige objektive Zweifel an der Richtigkeit einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Zusammenhang mit einer Kündigung des Arbeitsverhältnisses (durch den Arbeitnehmer oder den Arbeitgeber) vorliegen und somit deren Beweiswert „erschüttert“ wird, verbieten sich schematische Betrachtungen. Es kommt immer auf die konkreten Umstände des Einzelfalles an.
Dass eine Krankmeldung zeitgleich mit (oder zeitnah zu) der vom Arbeitnehmer ausgesprochenen Kündigung eingereicht wird, kann hierbei Bedeutung haben, insbesondere wenn das sonstige Verhalten des Arbeitnehmers den Schluss zulässt, dass er beabsichtigt, bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses gar nicht mehr zur Arbeit zu kommen. Das liegt z.B. nahe, wenn sich der Arbeitnehmer vorher schon von den Kollegen verabschiedet, seine persönlichen Sachen mitgenommen oder seine Arbeitsmittel ungefragt zurückgegeben hat, denn dann kann man das Verhalten als „angekündigtes“ Kranksein ansehen. Ist die vom Arbeitgeber vermutete Vortäuschung einer Krankheit hingegen nur eine von mehreren plausiblen Erklärungen, so kann eine „Erschütterung“ des Beweiswerts in der Regel nicht angenommen werden. Das zeitnahe Zusammenfallen von Kündigung und Krankmeldung ist – für sich genommen – jedenfalls nur ein Indiz, das mit in die Gesamtbetrachtung einfließt.
Wird der Arbeitnehmer infolge einer vom Arbeitgeber ausgesprochenen Kündigung „postwendend“ krank, so gilt im Grundsatz dasselbe. Der unmittelbare zeitliche Zusammenhang kann ein Indiz für die Vortäuschung einer Krankheit sein, dürfte für sich genommen aber in aller Regel nicht genügen. Zu beachten ist dabei insbesondere, dass Arbeitgeberkündigungen beim Arbeitnehmer nicht selten Ängste auslösen und zu psychischen/psychosomatischen Belastungsreaktionen führen, die ärztlich als Erkrankung feststellbar sind. Der Arbeitgeber muss daher in aller Regel wohl weitere Umstände dartun, um die „Erschütterung“ des Beweiswerts der ärztlichen Bescheinigung zu erreichen, z.B. Umstände, die darauf schließen lassen, dass die Krankheit nichts mit den typischen Belastungsreaktionen auf eine Arbeitgeberkündigung zu tun hat, sondern vom Arbeitnehmer bewusst als Bestrafung des Arbeitgebers in Reaktion auf die Kündigung „eingesetzt“ wird.
Ist es hingegen andersherum – der Arbeitgeber kündigt als Reaktion auf eine Krankmeldung des Arbeitnehmers – dann dürfte es am erforderlichen Kausalzusammenhang fehlen, und zwar auch in Bezug auf die weiteren ärztlichen Folgebescheinigungen bis zum Ende des Arbeitsvertrages. Hierzu ist allerdings noch die angesprochenen Revisionsentscheidung des BAG abzuwarten.
Generell scheint sich bei den Arbeitsgerichten außerdem folgende Erkenntnis durchzusetzen: Dem Umstand, dass die Arbeitsunfähigkeit gemäß ärztlicher Prognose zunächst voraussichtlich „passgenau“ bis zum letzten Tag des Arbeitsverhältnisses andauern soll und der Arbeitnehmer am nächsten Tag (wieder gesund und arbeitsfähig) bei einem neuen Arbeitgeber anfängt, kommt für sich genommen ebenfalls keine entscheidende Bedeutung zu. Denn hierbei handelt es sich lediglich um eine ärztlich begründete Prognose, die sich naturgemäß mitunter auch als falsch herausstellen kann; sie wird dadurch nicht im Nachhinein unrichtig. Außerdem wird durch eine solche Prognose ja nicht ausgeschlossen, dass die Krankheit auch darüber hinaus andauern könnte, d.h. dass eine (weitere) Folgebescheinigung ausgestellt wird, die über das Ende des Arbeitsverhältnisses hinaus reicht.
Anmerkung: Seit dem 01.01.2023 können sich gesetzlich krankenversicherte Arbeitnehmer grundsätzlich bei Krankheit darauf beschränken, dem Arbeitgeber mitzuteilen, dass sie krank sind und (voraussichtlich) für wie lange. Die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung muss der Arbeitgeber dann elektronisch bei der jeweiligen Krankenkasse abrufen.
Gerne berate ich Sie näher zum Thema Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung am Arbeitsvertragsende - oder zu anderen arbeitsrechtlichen Themen.
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