Obliegenheitsverstoß – scharfes Schwert oder „schlaffe Nudel“?

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In der Regulierungspraxis ist es ein gern gewähltes Mittel von Versicherern, um die eigene Einstandspflicht abzuwehren: Leistungsfreiheit nach Verletzung einer vertraglichen Obliegenheit. Bei Obliegenheiten handelt es sich um sog. „Pflichten gegen sich selbst“. Der Versicherer kann sie nicht selbstständig einfordern, geschweige denn einklagen. Verletzt sie der Versicherungsnehmer allerdings, können sie im schlimmsten Fall zur Leistungsfreiheit führen.

Oft werfen Versicherer dem Versicherungsnehmer etwa vor, er hätte den Sachverhalt nicht vollständig/richtig dargelegt und dadurch gegen ihre Anzeige- und Unterrichtungsobliegenheit verstoßen. Ein solches Verhalten erscheint auf den ersten Blick moralisch nachvollziehbar. Immerhin handelt es sich um eines der 10 Gebote, die Wahrheit zu sprechen. Wer wesentliche Informationen zurückhält, soll sich nicht wundern dürfen, wenn der Versicherer sich quer stellt.

Zu Wahrheit gehört aber auch, dass sich Versicherer nicht selten etwas voreilig auf Obliegenheitsverstöße berufen. Manchmal scheint es sogar so, dass Versicherer geradezu darauf warten, dass sich in den Angaben des Versicherungsnehmers auch nur Ungenauigkeiten befinden.

Doch ist es tatsächlich so, dass der bloße Verstoß gegen eine Obliegenheit stets zur Leistungsfreiheit des Versicherers führt? Dieser Beitrag möchte dieser Frage in gebotener Kürze nachgehen und dabei die wesentlichen Überlegungen aufzeigen, die im Zusammenhang mit Obliegenheiten angestellt werden sollten.


Normativer Anknüpfungspunkt für Tatbestand und Rechtsfolge

Zunächst zum Ursprung „allen Übels“ – den Vertragsbedingungen: Welche Obliegenheiten Sie als Versicherungsnehmer haben, ergibt sich maßgeblich aus den Allgemeinen Versicherungsbedingungen, dem sog. „Kleingedruckten“.

Das Rechtsschutzversicherungsrecht kennt verschiedene Obliegenheiten, darunter die Anzeige- und Unterrichtungsobliegenheit. Der Versicherungsnehmer hat den Versicherer unverzüglich, vollständig und wahrheitsgemäß über den Versicherungsfall und alle damit zusammenhängenden tatsächlichen Umstände zu unterrichten. Nachfragen des Versicherers (etwa zu den wirtschaftlichen Verhältnissen) sind auf Nachfrage zu beantworten. Weitere Obliegenheiten sind etwa im Bereich der Kaskoversicherung die unverzügliche Erstattung einer Anzeige bei der Polizei nach Diebstahl des Fahrzeugs oder die Schadensminderungsobliegenheit, nach der Versicherungsnehmer nach Eintritt eines Schadensfalls sorgsam mit dem versicherten Objekt umzugehen haben und weitere Schäden nach Möglichkeit zu verhindern haben.
 Bekannt und im Autoland Deutschland auch sehr relevant ist weiterhin die in KFZ-Haftpflichtverträgen vorkommende Obliegen, sich nach einem Unfall nicht unerlaubt vom Unfallort zu entfernen.


Verschulden als Voraussetzung der Leistungsfreiheit

Ist es nun doch passiert und im Stress des Alltags hat man eine Nachfrage des Versicherers falsch beantwortet, die Anzeige bei der Polizei vor sich hergeschoben oder gar vergessen oder aus Panik den Unfallort verlassen, so sollte die Ablehnung des Versicherers dennoch nicht für das letzte Wort gehalten werden. Für den Versicherer ist es nämlich mitunter schwieriger als gedacht, sich nach einem objektiv festgestellten Verstoß auf Leistungsfreiheit zu berufen.

So muss der Versicherungsnehmer zwar die Tatsachen darlegen, die in seiner persönlichen Sphäre liegen. Er muss also darlegen, warum er im konkreten Fall, vielleicht unachtsam, abgelenkt oder unwissend war. Die Darlegungslast für wissentliches oder willentliches (also vorsätzliches) Verstoßen gegen Obliegenheiten trägt aber gem. § 28 Abs. 2 VVG der Versicherer. Bemerkenswert ist hierbei, dass der Versicherer nur dann leistungsfrei ist, wenn ein vorsätzlicher Verstoß des Versicherungsnehmers anzunehmen ist. Ein grob fahrlässiges Verhalten rechtfertigt hingegen nur eine Kürzung der Versicherungsleistung. Das Alles-oder-Nichts-Prinzip“ gilt nicht mehr. Klauseln, die dies missachten, führen dazu, dass der Obliegenheitsverstoß sanktionslos wird.


Kausalitätsgegenbeweis

Selbst wenn der Versicherer sowohl den objektiven Verstoß als auch das subjektive Element darlegen kann, ist es weiterhin erforderlich, dass sich der Verstoß auch tatsächlich auf die Regulierung des Versicherers ausgewirkt hat. Dem Versicherungsnehmer bleibt der sog. Kausalitätsgegenbeweis nach § 28 Abs. 3 VVG. Danach bleibt der Versicherer selbst bei einer vorsätzlichen Obliegenheitsverletzung zur Leistung verpflichtet, wenn die Verletzung weder für den Eintritt oder die Feststellung des Versicherungsfalles noch für die Feststellung oder den Umfang der Leistungspflicht ursächlich war.

Ein Kausalzusammenhang zwischen der Obliegenheitsverletzung und der Feststellung des Versicherungsfalls besteht nur dann, wenn der VR bei korrektem Verhalten des Versicherungsnehmers Maßnahmen hätte ergreifen können, die zu einer Senkung der von ihm zu ersetzenden Leistungen geführt hätten.

Beispiele: Der Versicherungsnehmer verschweigt auf Nachfrage eine Information zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen, weil er sie nicht für relevant hält oder er die Nachfrage falsch versteht. Dem Versicherer war die Information aber bereits bekannt.

Der Versicherungsnehmer entfernt sich unerlaubt vom Unfallort, wird aber nur wenige Minuten später von der Polizei an seiner Wohnung angetroffen, ohne dass ein Einfluss von Drogen oder Alkohol festgestellt werden kann.


Achtung 
Der Kausalitätsgegenbeweis ist jedoch ausgeschlossen, wenn der Versicherungsnehmer die Obliegenheit arglistig (etwa in betrügerischer Absicht) verletzt hat.


Gesonderter Hinweis in Textform

Eine letzte Voraussetzung besteht in der Hinweispflicht des Versicherers für Unterrichtungs- und Informationsobliegenheiten nach § 28 Abs. 4 VVG. Danach muss der Versicherer den Versicherungsnehmer darauf hinweisen, dass Verstöße gegen seine Obliegenheiten u.U. zur (teilweisen) Leistungsfreiheit des Versicherers führen können. Dabei reicht es jedoch nicht aus, dass der Hinweis auf die Rechtsfolgen einfach in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen erfolgt. Vielmehr bedarf es eines gesonderten und hervorgehobenen Hinweises in Textform.


Fazit

Es sollte deutlich geworden sein, dass die Leistungsfreiheit aufgrund einer Obliegenheitsverletzung für den Versicherer kein Selbstläufer ist. Die rechtlichen Anforderungen sind komplex, da der Versicherer nicht nur die Obliegenheitsverletzung, sondern auch Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit des VN nachweisen muss – ein Beweis, der insbesondere beim „Wollenselement“ des Vorsatzes oft schwer zu erbringen ist. Für den Versicherungsnehmer ergeben sich darüber hinaus große Chancen durch den Kausalitätsgegenbeweis, da u.U. kein Zusammenhang zwischen der Obliegenheitsverletzung und dem Regulierungsverhalten des Versicherers besteht. So ist der Einwand des Obliegenheitsverstoßes weder schlaffe Nudel noch scharfes Schwert. Die Wahrheit liegt wie so häufig irgendwo dazwischen.




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