Selbstbestimmt leben = eigenverantwortlich leben

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Das LSG Niedersachsen-Bremen (L 16 KR 423/20) hat deutlich gesagt, daß Menschen mit Behinderung eigenverantwortlich handeln können, sollen und müssen.

Langsam, aber kontinuierlich setzt sich der gewandelte Behinderungsbegriff in der Rechtsprechung durch. Das Bild von Menschen mit Behinderung wandelt sich in der Gesellschaft vom Objekt der Fürsorge zum selbständigen Subjekt, das seine Rechte und Pflichten eigenverantwortlich wahrnehmen kann, will und muß. Ein anschauliches Beispiel ist ein neuer Beschluß des LSG Niedersachsen – Bremen (Beschluss vom 04.10.2021 - L 16 KR 423/20): Blindheit ist kein Grund zur Verwehrung eines Elektrorollstuhls. Eine Krankenkasse kann einem Versicherten die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl nicht einzig aus dem Grund verweigern, weil der Versicherte blind ist. Vielmehr sei bei der Versorgung mit Hilfsmitteln der gewandelte Behinderungsbegriff zu berücksichtigen.

Ein Versicherter war wegen seiner Körperbehinderung bereits mit einem Greifreifen Rollstuhl (Aktivrollstuhl) versorgt worden. Aufgrund seiner Multiple - Sklerose - Erkrankung wurden die Arme kraftlos; er konnte sich zuletzt nur noch mit kleinen Schritten stoßweise fortbewegen. Den Antrag auf Versorgung mit einem Elektrorollstuhl lehnte die Krankenkasse ab, weil der Mann blind war. Der Versicherte konnte zwar nachweisen, daß er ein Langstocktraining sowie eine Mobilitäts- und Orientierungsschulung erfolgreich absolviert hatte. Auch sei der Elektrorollstuhl zulassungsfrei, aber der Mann sei ungeeignet, mit dem Rollstuhl am Straßenverkehr teilzunehmen. Die Kasse könne weder für eine Eigen- noch eine Fremdgefährdung haften.

Das SG Lüneburg und das LSG Niedersachsen-Bremen sahen das jedoch anders. Der Wechselwirkung zwischen Behinderung und Umwelt sei mehr Gewicht beizumessen als früher. Es käme nicht nur auf die wirklichen oder vermeintlichen gesundheitlichen Defizite an. Wesentlich " … sei das Ziel der Teilhabe (Partizipation) an den verschiedenen Lebensbereichen sowie die Stärkung der Möglichkeiten einer individuellen und persönlichen Wünschen entsprechenden Lebensplanung und -gestaltung …" unter Berücksichtigung der Umwelt. Wörtlich sagte das LSG Niedersachsen-Bremen: "Es ist die Aufgabe des Hilfsmittelrechtes, dem Behinderten ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen und nicht, ihn von sämtlichen Lebensgefahren fernzuhalten und ihn damit einer weitgehenden Unmündigkeit anheimfallen zu lassen."

Das Gericht sah auch, daß der Kläger mit einem Elektrorollstuhl durchaus andere Verkehrsteilnehmer gefährden könne. Das sei aber auch bei einem Aktivrollstuhl der Fall: Sportlich trainierte Fahrer von Aktivrollstühlen könnten sich durchaus schneller fortbewegen als ein Fußgänger, trotzdem würde ihnen nicht mit dem Argument "Fremdgefährdung" ein Aktivrollstuhl verwehrt. "Es obliegt damit allein dem Kläger, einen Elektrorollstuhl entsprechend seiner Fähigkeiten verantwortungsbewusst zu nutzen", so das LSG.

Deutlicher kann wohl nicht ausgedrückt werden, daß Menschen mit Behinderung nicht Objekte gut gemeinter, aber als bevormundend verstandener Fürsorge sind.

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