Völkermordfall Gaza - Internationaler Gerichtshof verschärft Anordnungen gegen Israel

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Der Internationale Gerichtshof hat nunmehr in einer neuen Entscheidung vom 28. März 2024 seine vorläufigen Anordnungen im Völkermord-Fall Südafrika gegen Israel hinsichtlich der Gewährung humanitärer Hilfe erheblich verschärft. Die alte Vorschrift vom 26. Januar lautete "nur" (übersetzt aus der maßgeblichen englischen Version, Hervorhebungen d. Verf.):

"Der Staat Israel ergreift sofortige und effektive Maßnahmen, um die Gewährung dringend benötigter elementarer Dienstleistungen und humanitärer Hilfe zu ermöglichen, um die widrigen Lebensbedingungen anzugehen, denen die Palästinenser im Gazastreifen gegenüberstehen".

Die neue Vorschrift lautet demgegenüber (übersetzt aus der englischen Version, Hervorhebungen d. Verf.): 

Der Staat Israel wird, in Übereinstimmung mit seinen Verpflichtungen unter der Konvention betreffend die Verhütung und Bestrafung des Verbrechens des Völkermordes, und in Anbetracht der sich verschlechternden Lebensbedingungen, denen die Palästinenser in Gaza gegenüberstehen, insbesondere der Ausbreitung von Hunger und Hungertod,

a) alle notwendigen und effektiven Maßnahmen ergreifen, um unverzüglich in voller Kooperation mit den Vereinten Nationen die ungehinderte und umfängliche Gewährung von dringend benötigten elementaren Dienstleistungen und humanitärer Hilfe, einschließlich Nahrung, Wasser, Elektrizität, Treibstoff, Unterkunft, Kleidung, Hygiene und sanitären Einrichtungen, sowie medizinischem Material und medizinischer Versorgung, an Palästinenser in ganz Gaza durch alle Beteiligten, einschließlich durch die Erhöhung von Kapazität und Anzahl der Landzugänge und ihrer Offenhaltung so lange wie erforderlich, sicherzustellen,

b) mit sofortiger Wirkung sicherstellen, dass sein Militär keine Handlungen vornimmt, die eine Verletzung irgendeines der Rechte der Palästinenser  in Gaza als geschützter Gruppe unter der Völkermordkonvention darstellen, einschließlich dadurch, dass es durch irgendeine Handlung die Lieferung dringend erforderlicher humanitärer Hilfe verhindert."

Ferner verpflichtet das Gericht Israel wiederum zur Vorlage eines Berichtes über die in Befolgung der Anordnung getätigten Maßnahmen innerhalb eines Monats.

Anlass für die Verschärfung ist die ganz offensichtliche, weitere Verschlechterung der Lebensbedingungen, hervorgerufen insbesondere durch den weiter andauernden Entzug von Nahrung und anderen elementaren Gütern:

"Das Gericht stellt fest, dass Palästinenser in Gaza mittlerweile nicht mehr nur dem Risiko  einer Hungersnot ausgesetzt sind, wie in der Entscheidung vom 26. Januar 2024 dargelegt, sondern dass die Hungersnot tatsächlich eingesetzt hat, mit mindestens 31 Personen, einschließlich 27 Kindern, die bereits an Mangelernährung und Dehydrierung gestorben sind."

Das Gericht stützt sich insbesondere auf aktualisierte Berichte von Experten der maßgeblichen UN-Organisationen einschließlich des Welternährungsprogramms (WFP), der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des Kinderhilfswerks UNICEF sowie auf einen Bericht der WHO, wonach aufgrund der weitgehenden Zerstörung von Unterkunft, Infrastruktur und medizinischer Versorgung auch die hohe Gefahr der weiteren Verbreitung von ansteckenden Krankheiten besteht. 

Weiterhin gründet das Gericht seine Verschärfung auf eine Erklärung des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, wonach die "Situation von Hunger, Verhungern und Nahrungsmittelknappheit das Resultat von Israels weitgehenden Einschränkungen des Zugangs und der Verteilung von humanitären und kommerziellen Gütern, der (Binnen)Vertreibung des größten Teils der Bevölkerung wie auch der Zerstörung von wesentlicher ziviler Infrastruktur" sei.

Das Gericht nimmt die neue Resolution des UN-Sicherheitsrats, die eine Feuerpause während des Monats Ramadan anordnet, lediglich "zur Kenntnis" und sieht sich angesichts der Begrenzung seiner Kompetenzen auf die jeweiligen Prozessparteien (Israel und Südafrika, nicht Hamas) außerstande, selbst eine derartige Maßnahme anzuordnen. Dennoch schränkt die Entscheidung die Handlungsmöglichkeiten Israels, auch in militärischer Hinsicht, in erheblichem Umfang ein:

1) Israel muss humanitäre Hilfe nicht mehr nur ermöglichen, sondern sicherstellen. Das Gericht zählt zudem die Komponenten der Hilfe, welche Israel sicherstellen muss, im Detail auf und bestimmt auch die Art und Weise, wie diese Sicherstellung erfolgen muss, nämlich

- in voller Kooperation mit den Vereinten Nationen (was die von Israel eingeleitete Blockade der Lieferungen durch UNRWA, der UN-       Hilfsorganisation für palästinensische Flüchtlinge, ausschließen
müsste)

durch die Erhöhung von Kapazität und Anzahl der Landzugänge und ihre Offenhaltung so lange wie erforderlich.

2) Die israelische Armee darf durch keine militärische Handlung Hilfslieferungen verhindern. Diese Anordnung schließt die bewaffneten Angriffe auf Hilfskonvois oder auf auf Hilfe wartende, unbewaffnete Menschenmengen ebenso aus wie Flächenbombardements, Zerstörung von Infrastruktur und Angriffe auf Krankenhäuser. Nicht ohne Grund hat der israelische Ad-Hoc-Richter Barak (als Einziger) gegen diese Anordnung gestimmt.

Die fünf Richter aus China, Brasilien, Mexiko, Südafrika und Somalia haben in gesonderten Erklärungen ihre Enttäuschung über das Fehlen der Anordnung einer Waffenruhe oder eines Waffenstillstandes zum Ausdruck gebracht und der neue Präsident des Gerichts Salam betont in seiner eigenen gesonderten Erklärung, dass die neuen Anordnungen nur dann volle Wirksamkeit entfalten können, wenn der in der vom Gericht in Bezug genommenen Resolution des Sicherheitsrates vom 25. März  angeordnete "sofortige Waffenstillstand für den Monat Ramadan ... von allen Beteiligten ordnungsgemäß und voll befolgt wird und zu einem dauernden Waffenstillstand führt".

Die von den Richtern anerkannte Unzulänglichkeit ihrer eigenen Anordnung und die erkennbare Absicht der israelischen Regierung, sowohl die Gerichtsentscheidung als auch den Beschluss des Sicherheitsrates zu ignorieren, könnten aber dazu führen, dass weitere, möglicherweise koordinierte, Anordnungen sowohl des Gerichts als auch des Sicherheitsrates, welche diese Unzulänglichkeiten zu beheben versuchen, in nicht allzu langer Zeit folgen werden.










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