Internationaler Gerichtshof warnt Israel im Völkermord-Fall Gaza

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Am letzten Freitag, den 16. Februar 2024, hat der Internationale Gerichtshof in einer Presseerklärung mitgeteilt, warum er im Fall Südafrika gegen Israel die Festsetzung weiterer Maßnahmen im Hinblick auf die drohende Bodenoffensive Israels auf Gazas südlichste, an Ägypten grenzende Stadt Rafah ablehnt:

Die jüngsten Entwicklungen im Gazastreifen und insbesondere in Rafah würden in der Tat, wie vom UN-Generalsekretär beschrieben, den bereits existenten humanitären Albtraum mit unsäglichen Folgen noch weiter exponentiell steigern. Diese gefährliche Situation erfordere jedoch anstatt der Anordnung zusätzlicher die sofortige und effektive Umsetzung der für den gesamten Gazastreifen einschließlich von Rafah bereits festgesetzten vorläufigen Maßnahmen. Der Staat Israel sei nach wie vor gebunden, seine Verpflichtungen nach der Völkermordkonvention und der bereits existierenden gerichtlichen Anordnung voll zu erfüllen, "einschließlich indem er die Sicherheit der Palästinenser im Gazastreifen garantiert".

Israel hat in der Tat die angeordneten Maßnahmen nicht nur nicht umgesetzt, sondern - im Gegenteil - die "gefährliche Situation"  im gesamten Gebiet und nicht nur in Rafah erheblich verschärft - wie beispielhaft folgende Fälle zeigen:

Am 29. Januar 2024 flehte die 6jährige Hind als einzige überlebende Passagierin telefonisch um Rettung aus einem von israelischen Panzern in einem Vorort von Gaza umstellten Personenwagen. Nach zwölf Tagen wurde ihre Leiche zusammen mit ihren toten Angehörigen sowie den nur wenige Meter entfernten toten Rettungssanitätern, die ihr nach dem Telefonat und in Absprache mit Israel zu Hilfe geeilt waren, in den jeweils komplett zerstörten Kraftwagen aufgefunden. Der Aufforderung des US-Außenministeriums, den Vorfall umgehend zu untersuchen, hat Israel bisher nicht Folge geleistet.

Am 13. Februar 2024 kam ans Licht, dass eine von den USA finanzierte, für Gaza bestimmte Lieferung von Mehl seit Wochen im israelischen Hafen von Ashdod blockiert wird. Als Grund für die Blockierung wird von Israel angegeben, dass in den Unterlagen UNWRA als Adressatin angegeben ist, die größte und effektivste UN-Hilfsorganisation in Gaza, ohne deren Tätigkeit die Palästinenser gegenwärtig zum Hungertod verurteilt wären.

Am 15 Februar 2024 stürmten israelische Truppen das Nasser-Krankenhaus in Khan Yunis, das größte überhaupt noch funktionsfähige Krankenhaus im gesamten Gazastreifen, nach tagelanger Belagerung. Nachdem ein Großteil des medizinischen Personals fliehen musste oder verhaftet wurde und sowohl die Lieferung von Medikamenten und Treibstoff durch die Weltgesundheitsorganisation  als auch deren  Zugang  zum Krankenhaus von israelischen Panzern und Bulldozern  verhindert wurde, sind dort inzwischen 200 Patienten, einschließlich Intensivpatienten und Babys in Brutkästen, die dringend auf Sauerstoff angewiesen sind, vom Tod bedroht. Wenn Israel, wie angekündigt, die südlichste Stadt Rafah stürmt, werden zudem die dann wiederum nach Norden fliehenden Palästinenser keinerlei funktionierende Krankenversorgung  mehr haben.

Am 17. Februar  2024 räumte David Satterfield, der Beauftragte des US-Außenministeriums für humanitäre Angelegenheiten im Mittleren Osten, ein, dass es praktisch unmöglich geworden ist, humanitäre Hilfe nach Gaza zu bringen", nachdem Israel Hilfslieferungen eskortierende Polizeifahrzeuge angegriffen und Polizisten getötet hat. 

Des weiteren hat die Agentur der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten OCHA  mitgeteilt, dass in der Zeit zwischen dem 9. und 15. Februar 2024 pro Tag nur noch weniger als 43 Lastwagen mit Hilfslieferungen Gaza erreichen konnten, gegenüber 500 Lastwagen täglich vor dem 7. Oktober 2023.

Es ist evident, dass die obigen Handlungen, die sich über den gesamten Gazastreifen erstrecken, nahezu alle in der Verfügung vom 26. Oktober genannten Anordnungen verletzt haben und Israel somit die Anordnung ganz sicher nicht "sofort und effektiv umgesetzt hat". Ebenfalls ist evident, dass angesichts des jetzt schon einsetzenden Flüchtlingsstroms zurück in den Norden die Konzentration weiterer Ge- und Verbote auf das südliche Rafah keinen selbständigen Nutzen hat.

Überdies ist nunmehr klar, dass die von Deutschland, den USA und anderen westlichen Regierungen vorgeschlagenen "humanitären Pausen" anstelle eines endgültigen Waffenstillstandes der gerichtlichen Anordnung vom 26. Januar widersprechen: Dies impliziert nämlich, dass den sogenannten  "humanitären" Phasen jeweils "nichthumanitäre" Intervalle folgen, während die Entscheidung den durchgehenden Schutz der palästinensischen Bevölkerung nicht nur in örtlicher, sondern auch in zeitlicher Hinsicht verlangt. Erst recht ist es unhaltbar, den Umfang der humanitären Hilfe und der Einschränkung der Luft- und Bodenangriffe von der Freilassung der israelischen Geiseln abhängig zu machen, und zwar schon deshalb, weil die zu schützende palästinensische Zivilbevölkerung hierauf keinerlei Einfluss hat.

Schließlich ist es bemerkenswert, dass das Gericht seine bisherigen Anordnungen inhaltlich so interpretiert, dass Israel auch "die Sicherheit der Palästinenser im Gazastreifen" als solche "garantieren" muss, eine Anforderung, die bisher so nicht explizit gestellt wurde. Damit nähert man sich der fundamentalen Frage, in welchem rechtlichen Verhältnis die Sicherheit der Palästinenser zu derjenigen der Bewohner Israels grundsätzlich steht und inwieweit Israel in den besetzten palästinensischen Gebieten das Recht auf Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der UN-Charta verbleibt.




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