Vollmachts- und Erbschleicherei auf dem Vormarsch
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In einer alternden Gesellschaft bieten sich hierzu viele Gelegenheiten, denn Alter macht täuschungsanfällig, auch ohne Demenzerkrankung
„Hallo, rate mal, wer am Telefon ist!“ – Mit diesen oder ähnlichen Worten beginnt eine Seniorenbetrugsmasche, die jedes Jahr neue Opfer findet. Und die Zahlen steigen unablässig. Obwohl die Presse voll von warnenden Meldungen ist, liest man immer wieder von älteren Menschen, die falschen Enkeln, Handwerkern oder Polizisten viel Geld oder sogar ihr gesamtes Erspartes überließen. Inzwischen geben sich Trickbetrüger auch als Corona-infizierte Angehörige aus. In solchen Fällen brauchen sie dringend Geld für teure Medikamente ...
Täuschungsanfälligkeit im Alter
Was diesen Betrügern lange bekannt ist, haben Forschung und Justiz hierzulande noch viel zu wenig im Blick: die Beeinflussbarkeit von Senioren in der Willensbildung durch Dritte, gerade wenn sie alleinlebend oder sogar pflegebedürftig sind. In den angelsächsischen Ländern befasst man sich schon seit vielen Jahren mit dieser Thematik. 2012 belegten Wissenschaftler in den USA und in Neuseeland unabhängig voneinander mittels psychologischer und hirnphysiologischer Studien, dass man im Alter unweigerlich leichtgläubiger und beeinflussbarer und damit auch anfälliger für Täuschungen wird.[1]
Diese mentale Schwäche rührt längst nicht nur von Demenz; sie wächst bereits, wenn soziale Kontakte versiegen. – Alleinsein tut auf Dauer niemandem gut; bei älteren Menschen ist Einsamkeit regelrecht schädlich und beschleunigt nachweislich geistige Degeneration. Selbstredend tut Demenz ihr Übriges, beeinträchtigt die eigene Willenskraft und Fähigkeit zur Selbstreflektion noch zusätzlich. – Demenz trifft jeden Vierten über 80, jeden Dritten über 90. Nie kommt diese heimtückische Krankheit überfallartig, sondern schleichend und anfangs nur bei genauer Beobachtung erkennbar ...
Hilfsbereitschaft mit Hintergedanken
In unserem alternden Deutschland (22% ≥ 65 Jahre) ist vor diesem Hintergrund wenig überraschend eine klare Zunahme von Erbschleicherei und Missbrauch von Vollmachten festzustellen. Auch in meiner knapp 40-jährigen Prozess- und Beratungspraxis mehren sich täuschungsbasierte Eigentums- und Vermögensdelikte an älteren Alleinlebenden. Und es überrascht genauso wenig, dass die Corona-Pandemie hier als Steighilfe dient: Fälle, in denen überaus hilfsbereite Personen auftreten – nicht selten vermeintliche Verehrer –, die der Mutter oder Tante empfehlen, sonst bloß niemanden mehr zu treffen, um sich ja nicht mit Covid-19 zu infizieren ...
Denn es läuft nach dem immer selben Muster ab, beim LKA Berlin kurz als „Gutmachen, Schlechtmachen, Wegmachen“[2] bezeichnet: Erst macht sich die Person beliebt, dann die Verwandten schlecht, am Ende nimmt sie das Vermögen weg. Tatsächlich sind gerade alleinlebende hochaltrige Frauen durch diese Art Täter gefährdet.[3] Aber auch wessen (Groß-) Vater oder (Groß-) Onkel weit entfernt lebt, ist gut beraten, sich vor Ort eine integre Vertrauensperson zu suchen, umso mehr wenn der Verwandte pflegebedürftig ist. Denn wenn zum Alleinsein noch Hilfsbedürftigkeit hinzukommt, ist die Beeinflussbarkeit, um nicht zu sagen „Hörigkeit“, umso eher gegeben. Und leider gibt es selbst im Bereich der professionellen häuslichen und stationären Pflege manches „schwarze Schaf“.
Rechtslage hilft Erbschleichern
Falsche „Retter“ haben es meistens auf eine Vorsorge- oder Generalvollmacht abgesehen. Rechtssichere Vorlagen dafür erhält man gratis im Internet. Für ihre Durchsetzung braucht es weder Anwalt noch Notar.
Im Rahmen eines Betreuungsverfahrens hängt die Bestellung des Betreuers für einen hilfsbedürftigen Betroffenen von der Betreuungsbehörde ab, die lediglich eine Anfrage bei der SCHUFA macht, ob dort alles in Ordnung ist.
Ist erst einmal ein Betreuer bestellt, ist große juristische Kompetenz vonnöten, um diesem beizukommen. Denn das aktuell geltende Betreuungsrecht lässt Erbschleicher weitestgehend in Ruhe, Hauptsache sie legen alle Vermögensveränderungen des Betreuten einmal im Jahr schriftlich dem Betreuungsgericht vor. Und weil auch für eine effektive Strafverfolgung die gesetzlichen Grundlagen fehlen, kommen viele Täter ungestraft davon. Selbst bei finanziellen Schädigungen im sechsstelligen Bereich werden sehr viele Verfahren nach § 153 StPO wegen fehlendem öffentlichen Interesse eingestellt.[4] Der Gesetzgeber hat dafür wiederholt Kritik geerntet, zuletzt durch die FDP-Fraktion und das LKA Berlin.[5] Immerhin haben bundesweit nun einige Staatsanwaltschaften Sonderdezernate eingerichtet, die sich speziell um Straftaten gegen Senioren kümmern.
Medizinjuristische Kompetenz vonnöten
Bei erschlichenen Vorsorgevollmachten und abgeänderten Testamenten stellt sich natürlich die Frage nach der Geschäftsfähigkeit bzw. Testierfähigkeit des Erblassers. Um das zu beantworten, sind spezielle Verfahren vorgeschrieben mit einem besonderen Beweisrecht auf Basis medizinischer Sachverständigengutachten. Betroffene Verwandte und Juristen haben vor Gericht häufig Rechtsnachteile, weil sie dem medizinischen Sachverständigen nichts entgegenzusetzen haben.
Angesichts mit Medizinerlatein gespickter Gutachten denken sich nämlich viele Juristen: „Ich bin kein Mediziner, wird schon stimmen.“ Doch vielfach sind solche Gutachten lückenhaft oder ungenau. Dann hängt alles davon ab, dass der Rechtsanwalt diese Mängel, aber auch Verfahrensfehler, erkennt und moniert. Wenn dieser sich den Sachverständigen nicht buchstäblich vorknöpft und idealerweise selbst sämtliche Krankenunterlagen einholt und nach psychopathologischen Auffälligkeiten durchforstet, akzeptieren die Gerichte das vorgelegte Gutachten, ob es valide ist oder nicht.
Im Fall von Demenz kann es aufgrund der langen Verläufe dieser Erkrankung sehr aufwändig sein, die psychopathologischen Auffälligkeiten herauszufiltern, anhand derer der Grad der Demenz zum Zeitpunkt einer Testaments- oder Vollmachtserstellung eingestuft werden kann. Diese Einordnung erfolgt durch den Sachverständigen, aber vom Anwalt hängt es ab, über die Vollständigkeit solcher Verhaltensauffälligkeiten zu wachen und diese außerdem schriftsätzlich vorzutragen. In anderen Worten: Der Aufwand ist essentiell, denn nur so wird das medizinische Gutachten valide, und dieses Gutachten ist fallentscheidend.
Lesen Sie mehr zur Definition von Testierfähigkeit in meinem Rechtsstipp „Testierfähigkeit: Definition, Bedeutung und Beweislast“
Zur Autorin
Sybille M. Meier ist Fachanwältin für Erbrecht und Fachanwältin für Medizinrecht und spezialisiert auf Nachlasssicherung im Kontext von Vollmachterschleichung und Erbschleicherei. Meier befasst sich seit mehr als 40 Jahren mit medizinrechtlichen Fällen und ist erfahren im Umgang mit medizinischen Unterlagen und der Auswertung von Sachverständigengutachten. Als Dozentin der Deutschen Anwaltsakademie lehrt sie im Rahmen von (Fach-)Anwaltsfortbildungen zu den Themen "Missbrauch der Vorsorgevollmacht" und "Auswertung medizinischer Gutachten". Als doppelt qualifizierte Fachanwältin wird Meier vielfach von Betreuungsgerichten zur Beurteilung schwieriger erbrechtlicher Fragestellungen eingeschaltet.
Fußnoten
[1] Ruffman, Murray, Halberstadt & Vater, 2012; Sweeney & Ceci, 2014; Asp, Manzel, Koestner, Cole, Denburg & Tranel, 2012; Castle, Eisenberger, Seeman, Moons, Boggero, Grinblatt & Taylor, 2012. Siehe auch „Sicherheitspotenziale im höheren Lebensalter“ (Ergebnisse eines Forschungsprojekts der Deutschen Hochschule der Polizei)
[2] SWR, Report Mainz, 28.01.2020: „LKA-Berlin fordert besseren Schutz vor Erbschleicherei und dem Missbrauch von Vorsorgevollmachten“
[3] BMFSSJ, 2012, S. 12: „Kriminalitäts- und Gewalterfahrungen im Leben älterer Menschen“
[4] Bienwald, Werner in: BtPrax Betreuungsrechtliche Praxis 3/2019: „Reaktionen auf strafbare Verfehlungen von Betreuern und Bevollmächtigten"
[5] Deutscher Bundestag, 26.10.2020: „Ältere Menschen brauchen Schutz vor finanzieller Ausbeutung“
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