Arbeitsunfähigkeit und zehn Stunden Bahn fahren – verträgt sich das?

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Auf den ersten Blick kann der Sachverhalt des vom Landesarbeitsgericht Mecklenburg-Vorpommern mit Urteil vom 13.07.2023 (Aktenzeichen 5 Sa 1/23) entschiedenen Falls für Stirnrunzeln sorgen. Er handelt von einem an der Ostseeküste tätigen Chefarzt, der sich arbeitsunfähig meldete. Sodann trat er eine zehnstündige Bahnfahrt an. Ziel war die Konsultation seiner Hausärztin am Familienwohnsitz in Süddeutschland. Obendrein hatte der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis selbst gekündigt und befand sich im letzten Monat seiner Kündigungsfrist.


Beim Arbeitgeber war die Empörung groß. Dieser sah es anhand der Umstände als erwiesen an, dass der Mitarbeiter gar nicht arbeitsunfähig war. Wer solche Strapazen wie die vorliegende Bahn-Odyssee auf sich nehmen könne, sei offensichtlich nicht krank. Die „Arbeitsunfähigkeit“ sei zudem verknüpft mit dem endenden Arbeitsverhältnis.


Das zuständige Landesarbeitsgericht betrachtete den Fall jedoch genauer. Das werden auch wir im Folgenden tun.


Sachverhalt

Wichtig ist eine genaue Betrachtung des Sachverhalts:

  • Tatsächlich unterhielt der Mitarbeiter in der Nähe seiner Arbeitsstätte nur eine Zweitwohnung. Der knapp 1.000 km entfernte Familienwohnsitz war also sein Hauptwohnsitz. Dahingehend ist es grundsätzlich nicht abwegig, dass dort seine Hausärztin ansässig war.
  • Der Arbeitnehmer kündigte sein Arbeitsverhältnis bereits im August 2021 zum 28.02.2022 (sechsmonatige Kündigungsfrist!). Er meldete sich beim Arbeitgeber am Nachmittag des 08.02.2022 arbeitsunfähig. Tags darauf fuhr er nach Süddeutschland. Am 10.02.2022, stellte die Hausärztin eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für den Zeitraum 09.02. bis 21.02.2022 aus.
  • Ab dem 22.02.2022 trat er seinen Resturlaub an und begann zum 01.03.2022 eine anderweitige Anstellung. Eine weitere Krankschreibung erachtete der Mitarbeiter aufgrund seines Resturlaubs nicht für notwendig.
  • In einem später nachgereichten ärztlichen Attest wurden die Diagnosen Hypertonie (Bluthochdruck), Kopfschmerzen, HWS-Syndrom sowie Myogelosen (Muskelverhärtungen) festgehalten.


Der Arbeitgeber, eine Klinik, verweigerte für den Zeitraum 09.02. bis 21.02.2022 eine Entgeltfortzahlung. Die Arbeitsunfähigkeit und die weite Reise würden sich ausschließen. Ein vernünftiger Arbeitnehmer hätte sich an die eigene Klinik oder einen anderen, näheren Arzt gewendet.


Entscheidung des Landesarbeitsgerichts

Das ließen die entscheidenden Gerichte, das Arbeitsgericht erster Instanz sowie das LAG Mecklenburg-Vorpommern, nicht gelten.


Grundsätzlich wird der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor Gericht eine hohe Bedeutung zugemessen. Sie verfügt über einen beträchtlichen Beweiswert. Schließlich werden diese Bescheinigungen als gesetzlich vorgesehene Beweismittel von einer staatlich anerkannten, ärztlichen Fachperson ausgestellt. Auch wenn insbesondere so mancher Anwalt auf Arbeitgeberseite die Richtigkeit einer solchen „AU“ gerne anzweifelt, so hat dieser üblicherweise nicht Medizin, sondern Rechtswissenschaften studiert. Es gilt: Schuster, bleib bei deinen Leisten!


Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann jedoch erschüttert werden. Der Arbeitgeber muss tatsächliche Umstände darlegen, die die Erkrankung des Arbeitnehmers in Zweifel ziehen. Hierfür nennt § 275 Abs. 1a SGB V beispielhaft zwei Gründe:

  1. Auffällig häufige (Kurz-)Erkrankungen oder häufige Arbeitsunfähigkeiten am Beginn oder Ende einer Woche hinsichtlich des Arbeitnehmers
  2. Auffälligkeit der Häufigkeit der von ihm ausgestellten Bescheinigungen hinsichtlich eines Arztes

Beide dieser Kriterien waren vorliegend nicht relevant. Insbesondere war der Mitarbeiter zwar seit seiner Kündigung im August 2021 mehrmals erkrankt, jedoch nicht in besonders auffälligem Maße.


Auch mit anderen Argumenten kann ein Arbeitgeber versuchen, den Beweiswert einer ärztlichen Bescheinigung zu erschüttern. Zu beachten ist hierbei, dass er zumeist Diagnosen hinter den Arbeitsunfähigkeitszeiträumen nicht kennt. Arbeitnehmer müssen diese nicht offenlegen. Daher kann es für den Arbeitgeber Sinn ergeben, sich an der zu erbringenden Arbeitsleistung orientieren. Typischer Fall:

Ein krankgeschriebener, vorrangig körperlich tätiger Mitarbeiter wird beim Sport angetroffen. In solchen Fällen kann der Arbeitgeber sich zunächst auf einen widersprüchlichen Eindruck stützen. Dann ist der Arbeitnehmer an der Reihe. Er muss entgegnen bzw. sich wiederum ärztlich bescheinigen lassen, dass sich ausgeübte Freizeitaktivität und Krankheit nicht gegenseitig ausschließen. Bei dem geschilderten, typischen Fall „Sport während der AU“ wird dann oft sogar attestiert, die sportliche Betätigung sei förderlich für die Genesung.


Ähnlich argumentierte der Arbeitgeber hier. Die etwa zehnstündige Bahnfahrt lasse den Schluss zu, es liege gar keine Erkrankung vor. Das Landesarbeitsgericht ließ dies jedoch nicht gelten und führte aus:

„Die Belastung durch die Bahnreise ist nicht annähernd mit derjenigen einer Chefarzttätigkeit vergleichbar. Eine Bahnreise erfordert weder Konzentration noch körperliche Anstrengungen. Im Zug besteht die Möglichkeit, eine entspannte Körperhaltung einzunehmen und sich bei Bedarf etwas zu bewegen.“


Auch die offengelegten Diagnosen (Hypertonie, Kopfschmerzen, HWS-Syndrom und Myogelosen) begründeten nach Auffassung des Gerichts nicht, dass der Arbeitnehmer die Reise nicht antreten konnte. Es bestand keine Notwendigkeit, umgehend einen Notarzt oder eine Klinik aufzusuchen. Das Aufsuchen der Hausärztin am Familienwohnsitz sah das Landesarbeitsgericht als „durchaus nachvollziehbar“ an.


Auch das letzte Argument von Arbeitgeberseite brachte keinen Erfolg. Nur weil der Erkrankungszeitraum mit dem Beginn des Resturlaubs endete, konnte hieraus keine Unrichtigkeit der Bescheinigung abgeleitet werden. Hätte sich die Erkrankung über einen längeren Zeitraum erstreckt, so wäre lediglich die Wirkung nach § 9 BUrlG eingetreten. Krankheitstage während des Urlaubs sind nicht auf den Jahresurlaub anzurechnen. Bei längerer Erkrankung hätte der Arbeitgeber also eine Urlaubsabgeltung zahlen müssen. Der Beweiswert der Bescheinigung sei jedenfalls nicht durch die zeitliche Abfolge von Erkrankung und Urlaub erschüttert. Arbeitnehmer könnten demnach frei selbst entscheiden, ob Sie sich länger krankschreiben lassen oder sich im Urlaub auskurieren wollen.


Das Landesarbeitsgericht wendete damit nicht die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bei Erkrankungen bis zum Ende der Kündigungsfrist an. Insbesondere wenn sich Arbeitnehmer ab ausgesprochener Kündigung passgenau bis zu Ihrem Ausscheiden aus dem Unternehmen krankmelden, begründet dies gemäß BAG ernsthafte Zweifel hinsichtlich der ärztlichen Bescheinigung.


Fazit

Wie so oft lohnt sich ein genauer Blick auf den Sachverhalt, um zum richtigen Ergebnis zu kommen. Zwar können Bahnfahrten Stress verursachen, besonders wenn etwas im Schienenverkehr schiefgeht. Vorliegend war dieser Stress für das Gericht jedoch nicht vergleichbar mit der Alltagsbelastung eines Chefarztes. Auch liegt die Entscheidung auf einer Linie mit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum Thema Arbeitszeit und Lenkzeiten. In diesem Zusammenhang wird vertreten, Bahnfahrten seien außerhalb der üblichen Arbeitszeiten nicht als Arbeitszeit zu werten, da Arbeitnehmer sich währenddessen frei entspannen könnten. Damit ist es nur einheitlich, wenn auch im hier entschiedenen Fall das Bahnfahren nicht als besonders belastend bewertet wird.


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