Aufsichtsrat in Russland

  • 6 Minuten Lesezeit

1.       Aufgaben und Kompetenzen des Aufsichtsrates

Der Direktoren- oder Aufsichtsrat ("Direktorenrat") übt die ordentliche Leitung der Tätigkeit einer russischen Aktiengesellschaft (AO) aus. Zu seinen Kompetenzen gehören sämtliche Fragen in Verbindung mit der Leitung der Aktiengesellschaft, soweit sie nicht in die Kompetenz der Hauptversammlung fallen.

Artikel 65 des Föderalen Gesetzes "Über die Aktiengesellschaften" vom 26.12.1995 No. 208-FZ ("Aktiengesetz") legt eine Reihe von ausschließlichen Zuständigkeiten - Fragen wie z.B. die Festlegung der vorrangigen Ziele der Tätigkeit der Gesellschaft oder die Einberufung der Hauptversammlung - fest, die nicht in die Zuständigkeit des Exekutivorgans übertragen werden dürfen. Die gesetzliche Kompetenzliste ist offen und kann durch die Satzung von AO erweitert werden.

Der Direktorenrat ist bei der Aktiengesellschaft dann zwingend einzurichten, wenn diese über mehr als 50 stimmberechtigte Aktionäre verfügt. Hat die AO weniger als 50 stimmberechtigte Aktionäre, kann die Funktion des Direktorenrates von der jährlichen Hauptversammlung wahrgenommen werden.

2.      Zusammensetzung

Die Anzahl von Mitgliedern des Direktorenrates wird durch die Satzung bzw. den Beschluss der Hauptversammlung bestimmt und muss mindestens fünf Mitglieder aufweisen.

Allerdings muss der Direktorenrat bei mehr als 1.000 stimmberechtigten Aktionären mindestens 7 Mitglieder und bei mehr 10.000 stimmberechtigten Aktionären mindestens 9 Mitglieder aufweisen.

Mitglieder des Exekutivorgans können gleichzeitig Mitglieder des Direktorenrats sein. Die Anzahl der Mitglieder des Exekutivorgans darf aber 25% der Anzahl der Direktorenratsmitglieder nicht übersteigen. Der Generaldirektor darf nicht gleichzeitig Vorsitzender des Direktorenrates sein.

3.       Bestellung

Die Mitglieder des Direktorenrats werden von der Hauptversammlung mit einfacher Mehrheit für ein Jahr gewählt und können jederzeit vorzeitig abberufen werden. Wird die nächste ordentliche Hauptversammlung nicht rechtzeitig durchgeführt, so sind die Direktorenratsmitglieder nur mehr befugt, über die Einberufung der Hauptversammlung zu entscheiden. Die Wiederwahl der Mitglieder des Direktorenrats ist unbeschränkt möglich. Dienstnehmer haben keine gesetzlichen Entsendungsrechte.

Das Aktiengesetz setzt bei allen Aktiengesellschaften die Technik der kumulativen Abstimmung für die Wahl der Mitglieder des Direktorenrats ein. Dabei vertritt jede Aktie so viele Stimmen, wie Mitglieder in den Direktorenrat zu wählen sind. Die Stimmen können entweder alle einem Kandidaten gegeben oder auf mehrere Kandidaten verteilt werden. Als gewählt gelten die Kandidaten, die die meisten Stimmen auf sich vereinigen können. Diese Technik war in einigen Bundesstaaten der USA bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitet (zZt vgl. Sections 301.5 (c), 708 of California Corporations Code). Sie ermöglicht es Minderheitsaktionären, einen Vertreter in den Aufsichtsrat zu entsenden.

Da das Verhältnis zwischen der AO und einem Mitglied des Direktorenrates nicht dem Arbeitsrecht unterstellt ist, sofern das Mitglieds gleichzeitig keine Arbeitsfunktion für AO ausübt, findet das russ. Arbeitsgesetzbuch keine Anwendung auf seine Rechte und Pflichten. Insofern sind auch keine Arbeitserlaubnisse, die bei der Einstellung von ausländischen Staatsbürgern - z.B. eines Generaldirektors - notwendig, für die Ausübung von Pflichten des Direktorenratsmitglieds erforderlich.

In der Praxis schließen die Gesellschaften und die jeweiligen Mitglieder ihres Direktorenrates die zivilrechtlichen Verträge über die Ausübung ihrer Kompetenzen, insbesondere wenn die Tätigkeit der Mitglieder vergütet werden soll, ab. Im Hinblick darauf, dass diese Kompetenzen durch das Aktiengesetz und die Satzung der AO ausreichend geregelt sind, besteht jedoch u.E. kein besonderer Bedarf daran - zumindest bezüglich inländischer Direktoren. Manchmal werden auch die Geheimhaltungsvereinbarungen geschlossen.

Zu empfehlen ist jedenfalls die Versicherung von Risiken der Haftung im Zusammenhang mit Ausübung von Kompetenzen eines Mitglieds des Direktorenrates (D&O Versicherung). Die Zulässigkeit solcher Vereinbarungen, die es vor der Innen- und Außenhaftung schützen (Ziff. 7), steht auch in Russland außer Zweifel.

Nach Art. 64 Ziff. 2 des Aktiengesetzes können die Vergütung an die Mitglieder des Direktorenrates im Zusammenhang mit der Ausübung ihrer Pflichten aufgrund des Beschlusses der Hauptversammlung ausgezahlt bzw. die deswegen getragenen Kosten erstattet werden. Höhe der Vergütung und der Kostenerstattung wird aufgrund des Beschlusses der Hauptversammlung bestimmt.

4.   Der russische Corporate Governance Kodex und die unabhängigen Direktoren

Für börsennotierte öffentliche AOs ist der russische Corporate Governance Kodex von Bedeutung (Brief der Bank Russlands vom 10.04.2014 Nr. 06-52/2463). Die Neufassung ersetzte den ersten Kodex von 2001 und folgt u.a. internationalen Erfahrungen in diesem Bereich, vor allem dem Englischen Corporate Governance Code von 2012.

Der Kodex ist nicht verpflichtend. In ihrem Jahresbericht sollen alle AOs erklären, ob sie die Regeln des Corporate Governance Kodex einhalten. Falls es sich um eine börsennotierte AO handelt, die sämtliche oder einzelne Regeln des Kodex nicht eingehalten hat, sollte sie auch erklären, warum sie davon abgewichen ist ("сomply or explain" approach). Somit werden Investoren darüber informiert, inwieweit die Gesellschaft den etablierten Corporate Governance-Grundsätzen folgt, und können Risiken, die mit Investitionen in die einzelnen Börsenpapiere verbunden sind, genauer abschätzen.

Der überwiegende Teil des Corporate Governance Kodex ist dem Aufsichtsrat und seinen Ausschüssen gewidmet. Er empfiehlt eine ausreichende Anzahl unabhängiger Direktoren in den Aufsichtsrat aufzunehmen. Als unabhängig gelten Direktoren, die (i) mit der AO, (ii) ihrem wesentlichen Aktionär, (iii) ihrem wesentlichen Geschäftspartner, (iv) einem Wettbewerber oder (v) mit dem Staat nicht verbunden sind.

5.       Einberufung und Durchführung von Sitzungen

Beschlüsse des Direktorenrates werden grundsätzlich mit einfacher Stimmenmehrheit der anwesenden Direktorenratsmitglieder gefasst, es sei denn, dass sich etwas Anderes vom Aktiengesetz, der Satzung von AO oder (gegebenenfalls) der betriebsinternen Geschäftsordnung über den Direktorenrat der AO ergibt.

Regelmäßig werden Beschlüsse des Direktorenrates in den Sitzungen getroffen. Dabei kann die Möglichkeit für die Mitberücksichtigung der Stimme des an der Sitzung nicht teilnehmenden Mitglieds bzw. der Fernabstimmung vorgesehen werden.

Das Verfahren der Einberufung und der Durchführung von Sitzungen des Direktorenrates wird durch die Satzung bzw. die betriebsinterne Geschäftsordnung über den Direktorenrat der AO, für deren Bestätigung die Hauptversammlung zuständig ist, geregelt. In der Praxis wenden Gesellschaften häufig diese Geschäftsordnungen an, um die jeweiligen Regelungen von der registrierungspflichtigen Satzung auszuklammern, was u.a. bei Gemeinschaftsunternehmen oft vorkommt.

6.       Vereinbarungen über die Stimmabgabe im Aufsichtsrat

Durch eine Aktionärsvereinbarung können sich die Joint-Venture-Partner verpflichten, eine bestimmte Stimmabgabe zu Fragen - wie Bestellung eines Generaldirektors - durch die von ihnen benannten Mitglieder des Direktorenrates sicherzustellen. Die Parteien haben sodann dafür Sorge zu tragen, dass seine Mitglieder den von der jeweiligen Partei aufgestellten Kandidaten für die Position des Generaldirektors gutheißen. Dieses Nominierungsrecht kann jeweils für die nachfolgenden 2 Kalenderjahre auf eine andere Partei übergehen (Rotation).

Im Verhältnis zwischen den Aktionären hat eine Aktionärsvereinbarung Vorrang vor der Satzung der AO. Auch die aktuelle Rechtsprechung erkennt in solchen Fällen den Grundsatz des pacta sunt servanda und Unzulässigkeit einer bösgläubigen Vertragsverletzung an (vgl. Beschluss des WG des Ural-Gerichtsbezirks vom 22.12.2020 Nr. A50-6761-20).

Leistungsstörungen bei der Stimmabgabe können hohe Vertragsstrafen - zB in Höhe von EUR 100.000 -, Schadenersatzpflicht, Call- und Put-Kaufoptionen über Aktien der AO bzw. Liquidation der AO, nebst Kündigung wesentlicher Verträge - wie über Rahmenlieferung, Knowhow- und Markenlizenz, usw. -, auslösen.   

7.       Haftung der Direktorenratsmitglieder

7.1     Zivilrechtliche Haftung

Die Mitglieder des Direktorenrates von AO müssen bei der Ausübung ihrer Rechte und der Erfüllung ihrer Pflichten im Interesse der Gesellschaft handeln und ihre Rechte und Pflichten gegenüber der Gesellschaft gewissenhaft und angemessen ausüben bzw. erfüllen.

Gem. Art. 71 des Aktiengesetzes haften sie für Verluste der Gesellschaft, die von ihnen schuldhaft verursacht wurden. Haben mehrere Personen den Schaden verursacht, so haften sie gesamtschuldnerisch. Ist ein Kollegialorgan vorhanden, so sind jene Mitglieder des Exekutivorgans, die gegen die schadenskausale Entscheidung gestimmt oder an der entsprechenden Beschlussfassung nicht teilgenommen haben, von der Haftung befreit.

Bei der Bestimmung der Grundlagen und des Umfangs der Haftung sind die üblichen Bedingungen des Geschäftsverkehrs und alle anderen Umstände, die für das Verfahren von Bedeutung waren, heranzuziehen. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auf Art. 401 Ziff. 2 russ. ZGB, demzufolge das Fehlen der Schuld grundsätzlich von der Person nachzuweisen ist, die eine Verpflichtung verletzt hat. Im Falle einer Pflichtverletzung hätte das Mitglied des Direktorenrates folglich den Beweis zu führen, dabei nicht schuldhaft gehandelt zu haben.

Klageberichtigt sind die AO oder ein Aktionär, der mindestens 1% der stimmberechtigten Aktien von AO besitzt.

7.2       Verwaltungsrechtliche Haftung

Ab 2009 fallen auch die Mitglieder des Direktorates unter den Begriff einer "Amtsperson" im Sinne der russischen Ordnungswidrigkeitsordnung, gegen die teilweise massiven Geldstrafen bzw. die Disqualifikation verhängt werden kann. Als das zentrale zuständige Kontrollorgan ist die russische Kapitalmarktaufsichtsbehörde – derzeit die russische Zentralbank – bestimmt.

Der Verfasser verfügt über eine langjährige Erfahrung von Vertretung ausländischer Investmentfonds und Unternehmen in den Direktorenraten von russischen AOs und Gemeinschaftsunternehmen - als Mitglied oder Gesellschaftssekretär des Direktorenrates. 

Foto(s): www.karimullin.com


Artikel teilen:


Sie haben Fragen? Jetzt Kontakt aufnehmen!

Weitere Rechtstipps von Rechtsanwalt Dr. Rustem Karimullin LL.M., MCIArb

Beiträge zum Thema