Berufsunfähigkeitsversicherung: Was steckt hinter der abstrakten Verweisung?
- 5 Minuten Lesezeit

Die abstrakte Verweisung ist ein zentraler Begriff in der Berufsunfähigkeitsversicherung, der oft zu Missverständnissen und rechtlichen Auseinandersetzungen führt. Es handelt sich um eine Klausel, die es dem Versicherer erlaubt, den Versicherungsnehmer nicht nur dann als berufsunfähig zu betrachten, wenn er seinen bisherigen Beruf nicht mehr ausüben kann, sondern auch, wenn er theoretisch in einem anderen Beruf arbeiten könnte. Obwohl dies nur noch selten vorkommt und in der Regel ältere Versicherungsverträge betrifft, stellt sich die Frage, wie eine abstrakte Verweisung erkennbar ist, welche Voraussetzungen und welche Folgen sie für den Versicherungsnehmer hat und letztendlich was zu beachten ist, wenn man selbst abstrakt verwiesen wird.
Begriff der Berufsunfähigkeit
Die Berufsunfähigkeit wird in der Regel definiert als die Unfähigkeit, den zuletzt ausgeübten Beruf vollständig auszuüben. Dabei sind nicht nur die körperlichen Einschränkungen, sondern auch die geistigen und psychischen Einschränkungen des Versicherungsnehmers zu berücksichtigen. Im Rahmen des Leistungsantrags wird von Seiten des Versicherers geprüft, ob der Versicherte seine berufliche Tätigkeit in der Art und Weise ausführen kann, wie es vor der Erkrankung oder dem Unfall der Fall war. Die Berufsunfähigkeit ist nach den gängigen Versicherungsbedingungen in der Regel dann gegeben, wenn der Versicherte zu mindestens 50 Prozent in der Ausübung seines Berufs über einen Zeitraum von min. 6 Monaten eingeschränkt ist. Für einen Leistungsanspruch muss allerdings die bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit, wie sie im konkreten Vertrag vereinbart wurde, vorliegen. Dies bedeutet, dass in manchen Fällen die alleinige Berufsunfähigkeit im eigenen Beruf im Einzelfall nicht zu einem Leistungsanspruch des Versicherungsnehmers führt. Hier schlägt dann die große Stunde der abstrakten Verweisungsklausel.
Die abstrakte Verweisungsklausel
„Vollständige Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn der Versicherte infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich dauernd außerstande ist, seinen Beruf oder eine andere Tätigkeit auszuüben, die aufgrund seiner Ausbildung und Erfahrung ausgeübt werden kann und seiner bisherigen Lebensstellung entspricht.“
So oder ähnlich könnte eine typische Formulierung einer abstrakten Verweisungsklausel lauten. Entscheidend ist, dass der Versicherer hier die „andere Tätigkeit“ erwähnt. Die abstrakte Verweisung ermöglicht es der Versicherung, den Versicherungsnehmer als nicht berufsunfähig zu betrachten, selbst wenn dieser seinen bisherigen Beruf nicht mehr ausüben kann, solange er in der Lage ist, einen anderen Beruf auszuüben, der seiner Ausbildung, seinen Kenntnissen und seiner Erfahrung entspricht. Die abstrakte Verweisung basiert auf der Annahme, dass es „zumutbare“ Tätigkeiten gibt, die der Versicherte in einem anderen Beruf ausüben könnte, obwohl er in seinem bisherigen Beruf nicht mehr arbeiten kann. Beispielsweise könnte eine ausgebildete Gesundheits- und Krankenpflegerin (Beruf: Krankenschwester bei einem ambulanten Pflegedienst), die aufgrund eines Bandscheibenvorfalls nicht mehr als solche arbeiten kann, in der abstrakten Verweisung theoretisch auf eine Tätigkeit als Krankenschwester mit ausschließlich administrativen und unterstützenden Tätigkeiten ohne körperliche Belastungen verwiesen werden, vgl. BGH, Urteil vom 07.12.2016.
Abgrenzung zur konkreten Verweisung
Die abstrakte Verweisung unterscheidet sich von der sog. konkreten Verweisung. Das Besondere an der abstrakten Verweisung ist, dass allein die theoretische Möglichkeit, dass der Versicherungsnehmer rein gesundheitlich eine andere (Vergleichs-)Tätigkeit ausüben könnte, ausreicht, damit die Versicherung keine Leistungen erbringen muss. Bei der konkreten Verweisung ist es dagegen entscheidend, dass die betreffende Person den anderen Beruf auch tatsächlich ausübt.
Voraussetzungen der abstrakten Verweisung
Der Versicherer hat die potenziellen Vergleichsberufe aufzuzeigen und die relevanten Merkmale dieser Berufe detailliert darzulegen. Der Versicherte muss dann nachweisen, dass der neue Beruf nicht zu ihm passt oder dass er ihn aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen nicht ausüben kann. Damit die Versicherung jedoch auf eine andere Tätigkeit verweisen kann, müssen zunächst folgende Voraussetzungen vorliegen:
- Gesundheitlich imstande: Eine Verweisung ist nur dann möglich, wenn die versicherte Person gesundheitlich in der Lage ist, den anderen Beruf in einem Maße auszuüben, dass eine Berufsunfähigkeit im ursprünglichen Beruf weiterhin gegeben bleibt.
- Berufliche (Vor-)Kenntnisse und Fähigkeiten: Die Verweisung setzt voraus, dass die versicherte Person den Verweisungsberuf aufgrund ihrer Ausbildung und Fähigkeiten übernehmen kann. Es wird hierbei auf den gesamten Wissensstand, den der Versicherungsnehmer im Verlauf seines bisherigen Arbeitslebens erlangt hat, abgestellt.
- Über- und Unterforderungsgebot: Die versicherte Person darf im neuen Beruf nicht über- und unterfordert werden.
- Vergleichbarkeit der Lebensstellung: Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Frage, ob der neue Beruf die Lebensstellung des Versicherten aufrechterhält. Der Versicherte darf durch den Wechsel in den neuen Beruf keinen „spürbaren“ sozialen oder wirtschaftlichen Abstieg erfahren. Ein Abstieg wird dann als „spürbar“ betrachtet, wenn das Einkommen um mehr als 30 % sinkt oder der soziale Status stark abnimmt. Besonders in Berufen mit hohem sozialem Prestige, wie etwa bei Ärzten oder Polizisten, kann eine abstrakte Verweisung ausgeschlossen sein.
Fazit und Handlungsempfehlung
Es ist für Versicherte ratsam, bei Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung auf die Bedingungen der Verweisungsklauseln zu achten und, wenn möglich, eine abstrakte Verweisung zu vermeiden. Sollte jedoch ein Versicherungsnehmer auf einen Beruf abstrakt verwiesen werden, empfehlen sich folgende Schritte:
- Vertrag genau prüfen: Überprüfen Sie, ob die abstrakte Verweisungsklausel tatsächlich im Vertrag enthalten ist.
- Berufliche Qualifikationen überprüfen: Prüfen Sie, ob Sie aufgrund Ihrer Ausbildung und Erfahrung tatsächlich in der Lage sind, eine andere Tätigkeit auszuüben, die der abstrakten Verweisung entspricht. Falls nicht, sammeln Sie Beweise, die Ihre fehlenden Qualifikationen belegen.
- Gesundheitliche Belastung bewerten: Lassen Sie von Fachärzten feststellen, ob der vorgeschlagene Ersatzberuf gesundheitlich für Sie zumutbar ist.
- Einkommens- und Statusverlust dokumentieren: Wenn der neue Beruf zu einem erheblichen Einkommensverlust oder sozialen Abstieg führen würde, dokumentieren Sie diesen Verlust detailliert.
- Vergleichbare Berufe hinterfragen: Fordern Sie vom Versicherer eine detaillierte Auflistung der möglichen Vergleichsberufe und deren Anforderungen. Überprüfen Sie, ob diese Berufe mit Ihrer Ausbildung und Erfahrung übereinstimmen.
- Rechtsberatung einholen: Konsultieren Sie umgehend einen Fachanwalt für Versicherungsrecht, damit dieser überprüfen kann, ob die abstrakte Verweisung rechtmäßig ist und Ihre Ansprüche auf Leistungen gerechtfertigt sind.
Weitere Informationen und Rechtsprechungen ist für Sie unter „Versicherungsrecht“ und themenspezifisch unter „Berufsunfähigkeitsversicherung“ zusammengefasst.
Artikel teilen: