Ist die Richtsatzsammlung für Schätzungen und Verprobungen durch die Betriebsprüfung geeignet?

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Eine aktuelle Antwort des Bundesfinanzministeriums schafft keine Klarheit

In der Praxis der Betriebsprüfung stützen sich Prüfer oft auf die Richtsatzsammlung. Hierbei handelt es sich um eine Sammlung von Daten aus zahlreichen Betriebsprüfungen bei anderen Unternehmen. Prüfer nutzen die  Richtsatzsammlung in manchen Fällen als alleinige oder ergänzende Argumentation, um bisher steuerlich erklärte Umsätze/Gewinne als zu niedrig zu verwerfen und eine nicht selten extrem hohe Zuschätzung zu rechtfertigen. Zahlreiche solcher Fälle zeigen, dass diese Vorgehensweise aus Sicht zahlreicher Berater und Unternehmer oft nicht der betrieblichen Realität entspricht. Insbesondere Unternehmer der sog. Bargeldbranchen wie Gastronomie und Einzelhandel sehen sich dann „wie in einem falschen Film“. Aufgrund dieser Diskrepanz war es an der Zeit, dass die Richtsatzsammlung endlich einmal hinterfragt wird. Woher stammen die Daten? Wie werden die Betriebe ausgewählt? Wieviel Prozent aller Betriebe bildet die Datenbasis? Diese und viele weitere Fragen stellen sich, wenn man die Richtsatzsammlung einmal näher kritisch beleuchtet. 

1. Die Diskussion hat endlich den Bundestag erreicht und wird hierdurch belebt

Bisher haben lediglich Insider – wie z. B. Steueranwälte – Zweifel an der Transparenz der Richtsatzsammlung geäußert. Nunmehr wurde aus dem Bundestag heraus einen sog. Kleine Anfrage mit kritischen Fragen zum Hintergrund der Richtsatzsammlung gestellt (Schreiben vom 27.8.2018, BT-Drs. 19/3987). Das Bundesfinanzministerium hat mit Schreiben vom 10.9.2018 auf diese Anfrage geantwortet (BT-Drs. 19/4238 v. 11.9.2018). In Fachkreisen werden diese Fragen entsprechend diskutiert (vgl. die ausführlichen Hinweise von Rechtsanwalt Dirk Beyer in der Fachzeitschrift NWB 2018, Heft 44). Im Folgenden sollen einige wichtige kritische Punkte beleuchtet werden. Im Einzelfall kann hierdurch jedoch keine Beratung ersetzt werden und es sollte im Einzelfall geklärt werden, welche Argumente gegen die Richtsatzsammlung konkret vorgebracht werden.

2. Die Richtsatzsammlung hat keine Gesetzeskraft

Bisher wird die Richtsatzsammlung faktisch wie ein Gesetz behandelt, d. h. Finanzämter und Gerichte sehen sich an diese gebunden. Diese Sichtweise ist jedoch unzutreffend. Es handelt sich um kein Gesetz. Allein der Umstand, dass Behörden die Daten für die Richtsatzsammlung zur Verfügung stellen, hat keinen eigenständigen Beweiswert. Auch die Bezeichnung als „amtliche“ Richtsatzsammlung suggeriert eine Bedeutung, die nicht allein mit dieser Bezeichnung begründet werden kann. Vielmehr ist die Richtsatzsammlung zu hinterfragen. Erst anschließend kann ihre Qualität beurteilt werden. Allein aufgrund ihrer bisher nicht geklärten Qualität könnte sich eine faktische Bindung ergeben. Dies ist bisher aber nicht geklärt, sodass insbesondere Finanzrichter und Strafrichter diese nicht unbesehen zugrunde legen dürfen. Es bestehen vielmehr gewichtige Zweifel  daran, dass die Datenbasis repräsentativ ist (siehe hierzu gleich). 

3. Fragen und Antworten des Bundesfinanzministeriums

Der genaue Wortlaut der Fragen und Antworten des BMF ergeben sich aus dem ausführlichen BMF-Schreiben vom 10.9.2018. Im Folgenden können die Antworten des BMF nur im Kern wiedergegeben werden, wobei das BMF-Schreiben ergänzend gesehen werden sollte.

a. Zur Anzahl der geprüften Betriebe

Frage an das BMF: Wie viele Richtsatzprüfungen wurden zur Ermittlung der veröffentlichten Daten insgesamt pro Kalenderjahr durchgeführt?

Antwort des BMF: Für die Jahre 2014 bis 2017 führt das BMF die Zahl der jährlich insgesamt ausgewerteten Betriebsprüfungen auf (3.848 bis 4.779 Prüfungen). Die Ermittlung der Richtsätze je Gewerbeklasse erfolgt in Zeitabständen von grundsätzlich vier Jahren. Eine Verkürzung oder Verlängerung des Zeitabstandes sei möglich. 

Kritische Anmerkung: Ob diese Zahl eine hinreichende Datenbasis bedeutet, kann an dieser Stelle nicht beurteilt werden. Allerdings geht auch das BMF auf diese methodische Frage einer hinreichenden Datenbasis nicht näher ein. Neben der absoluten Anzahl der geprüften Betriebe dürfte auch die Relation zur Gesamtzahl der Betriebe des jeweiligen Gewerbezweigs zu sehen sein (vgl. hierzu Frage 3).

b. Zum Prozentsatz geprüfter Betriebe

Frage an das BMF: Wie viel Prozent der Betriebe der jeweiligen Branche bzw. Gewerbeklasse werden zur Ermittlung dieser Daten geprüft?

Antwort des BMF: Da die Anzahl der Betriebe je Gewerbezweig dem BMF unbekannt sind, kann das BMF keine Prozentzahlen nennen. 

Kritische Anmerkung: Da der Prozentanteil jeweils unbekannt ist, kann nach hier vertretener Ansicht nicht beurteilt werden, ob die Richtsatzsammlung repräsentativ ist. Die Antwort des BMF offenbart, dass selbst das BMF hierzu keine Aussage treffen kann. Selbst ein auf das Bundesgebiet bezogener Prozentsatz würde nicht für mehr Transparenz sorgen. Denn es bliebe unklar, wie sich die geprüften Betriebe regional verteilen. So besteht z. B. die Frage, ob Finanzämter einzelner Regionen besonders fleißig Daten für die Richtsatzsammlung liefern und andere weniger. Auch ist unklar, ob der Datenfluss in den einzelnen Bundesländern und Bundesländern kontrolliert wird und welche Folgen sich ergeben, wenn der Datenfluss unterschiedlich ist. 

c. Wie werden die Betriebe ausgewählt?

Frage an das BMF: Wie werden die zur Durchführung einer Richtsatzprüfung vorgesehenen Betriebe ausgewählt? Erfolgt die Auswahl nach einem echten (welchen) Zufallsprinzip, oder wählen die Prüfer bewusst Betriebe mit guter Ertragslage aus, bei denen mit einem entsprechenden Mehrergebnis zu rechnen ist?

Antwort des BMF: Das BMF verweist auf die Gesetzeslage, dass Prüfungen selbstverständlich nicht mit dem Ziel durchgeführt werden dürfen, die Festsetzung der Richtsätze in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen.

Kritische Anmerkung: Diese Aussage wiederholt nur die Gesetzeslage. Hingegen geht das BMF nicht auf die naheliegende Überlegung ein, dass Betriebe, bei denen voraussichtlich „nichts zu holen ist“, aus Sicht der Finanzverwaltung weniger attraktiv für das sich ergebende Mehrergebnis erscheinen. Insbesondere Erhebungsstellen der Finanzämter kein gesteigertes Interesse daran, steuerliche Rückstände aufgrund festgesetzter Mehrsteuern zu verwalten, die z. B. wegen Zahlungsunfähigkeit voraussichtlich auf Dauer nicht beigetrieben werden können. Allerdings ist relativierend anzumerken, dass auch solche Betriebe geprüft werden. Dies zeigt die durch verschiedene Rechnungshofberichte veröffentlichte erhebliche Diskrepanz zwischen festgesetzten und beigetriebenen Mehrsteuern aufgrund Betriebsprüfungen zeigt. Kritisch zu sehen ist jedoch, dass zahlreiche Betriebe aufgrund der Entscheidung von Amtswaltern der Finanzverwaltung zur Prüfung ausgewählt werden und damit zwangsläufig irgendein Interesse verbunden ist (wobei hiermit noch eine Aussage über das Interesse verbunden ist). Eine neutrale und völlig ausgewogene Betriebsauswahl, wie es die Antwort des BMF nahelegt, liegt daher unmittelbar nicht auf der Hand. 

d. Werden auch Daten von Verlustbetriebe berücksichtigt?

Frage an das BMF: Wie wird sichergestellt, dass auch die Ergebnisse solcher Betriebe in die Richtsatzsammlung eingehen, die negative Betriebsergebnisse erzielen und daher wegen kaum zu realisierender Mehrergebnisse nicht zur Betriebsprüfung ausgewählt werden?

Antwort des BMF: Betriebe, bei denen im Ergebnis der Betriebsprüfungen ein negatives Betriebsergebnis festgestellt wurde, werden in die Richtsatzermittlungen nicht einbezogen. Für Betriebe mit negativem Betriebsergebnis ist eine Verprobung des Gewinns nicht möglich. Eine Einbeziehung der Ergebnisse derartiger Betriebe würde die Richtsätze verfälschen,

Kritische Anmerkung: Diese Antwort bestätigt die bisherige Vermutung vieler Berater, dass „Problemfälle“ nicht durch die Richtsatzsammlung repräsentativ abgedeckt sind. Bei Mandanten, die Verluste erzielen, werden die Besteuerungsgrundlagen durch die Anwendung der Richtsatzsammlung daher nicht realitätsgerecht geschätzt. Ohne die Berücksichtigung von Verlustbetrieben bekommt die Richtsatzsammlung eine Schieflage.

e. Zur Aktualität der Daten

Frage an das BMF: Wie aktuell sind die in der Richtsatzsammlung zusammengefassten Daten tatsächlich?

Antwort des BMF: Das BMF listet auf, mit welcher Richtsatzsammlung die in der Richtsatzsammlung 2017 enthaltenen Gewerbezweige zuletzt neu festgesetzt wurden. Hiermit legt das BMF dar, wie aktuell die Daten sind.

Kritische Anmerkung: Zunächst zur Klarstellung: Die Richtsatzsammlung 2018 enthält nicht nur aktuellen Daten aus 2018. Dies kann schon deshalb nicht sein, weil sie im Laufe des Jahres 2018 bekanntgegeben wurde und die Prüfung des Jahres erst in den Folgejahren geschehen wird. Die Datenänderungen der einzelnen Jahre kann nur durch einen Vergleich der bisherigen Richtsatztabellen ermittelt werden, da sie nicht ausdrücklich mit Jahresangaben versehen sind. Die jährliche Richtsatzsammlung ist keine ausschließliche Sammlung aktueller Daten des betreffenden Jahres. Vielmehr werden alte Werte vergangener Jahre übernommen und erst nach einigen Jahren schrittweise erneuert. So ist aus der Antwort des BMF erkennbar, dass jeweils rund ein Drittel der neu festgesetzten Gewerbezeige in den Jahren 2014, 2015 und 2016 neu festgesetzt worden sind. Nur wenige Gewerbezweige stammen noch aus der Festsetzung in 2012 und 2013. Diese Erkenntnis sollte für Schätzungen bei der Auswahl der richtigen Richtsatzsammlung genutzt werden. Denn eine Schätzung muss pro Jahr mit den für dieses Jahr möglichst realitätsbezogenen Werten geschehen. Daher sind für eine Schätzung die zeitnächsten Richtsatzwerte anzuwenden. Diese sind im Einzelfall durch einen Vergleich der Richtsatzsammlungen zu ermitteln, in dem der Anwender schaut, in welchen Jahren sich Änderungen ergeben haben. 

Zu der Frage, warum in der Richtsatzsammlung nicht darauf hingewiesen, aus welchen Kalenderjahren bzw. Wirtschaftsjahren die erhobenen Daten stamme, antwortet das BMF wenig zufriedenstellend (verkürzt): Grundlage für die Neufestsetzung der Richtsätze bilden die durch die Finanzverwaltungen der Länder im Rahmen von Betriebsprüfungen erhobenen Betriebsergebnisse des Vorjahres der Richtsatzsammlung. Nur ausnahmsweise werden in die Ermittlung auch die Betriebsergebnisse des 2. Vorjahres einbezogen. Informationen, aus welchen Kalenderjahren bzw. Wirtschaftsjahren die erhobenen Daten zur Festlegung der Richtsätze für die einzelnen Gewerbeklassen stammen, haben für die Anwendung der Richtsätze keine Bedeutung und werden daher in die Richtsatzsammlung nicht aufgenommen.

Kritische Anmerkung: Richtig ist vielmehr das Gegenteil: Bei einer Schätzung für einen Prüfungszeitraum muss die Schätzung richtigerweise die Daten berücksichtigen, die aus den betreffenden Streitjahren stammen. Daher ist die Information über das Herkunftsjahr entgegen der Ansicht des BMF entscheidend und sollte in der jeweiligen Richtsatzsammlung vermerkt sein. Die Antwort des BMF bestärkt den Eindruck der Intransparenz.

4. Sind die Daten örtlich repräsentativ?

Hiernach wurde in der sog. Kleinen Anfrage nicht ausdrücklich gefragt. Dieser Aspekt ist jedoch ein Kernpunkt der bisherigen Kritik an der Richtsatzsammlung. Es ist nicht transparent, welche Finanzamtsbezirke besonders „fleißig“ Daten liefern und ob bestimmte Regionen gar überrepräsentiert sind, Zudem differenziert die Richtsatzsammlung nicht regional. Z. B. sind Gastronomiebetriebe in eher unattraktiven Lagen nicht mit Betrieben in den Altsstadtbezirken der Großstädte vergleichbar. Auch ein Ost-/West- oder Nord-/Süd-Gefälle ist nicht erkennbar berücksichtigt worden.

5. Gibt es Daten-Updates nach Einsprüchen?

Viele Schätzungen reduzieren sich in der Praxis z. B. durch Einsprüche. Doch werden dann die reduzierten Umsätze und Gewinne in die Richtsatzsammlung übernommen? Auch dies ist unklar und es ist bis zum Beweis des Gegenteils zu vermuten, dass dies nicht der Fall ist. Es ist nicht bekannt, dass das BMF rückwirkend für die entsprechenden Jahre die Richtsatzsammlung anpasst, sodass auch hierzu eine Information des BMF interessant wäre. Ohne Updates liegen der Richtsatzsammlung zahlreiche überhöhte Schätzungen zugrunde. Aus der Beratungspraxis ist bekannt, dass Schätzungen nicht selten im Einspruchs- oder spätestens im Klageverfahren deutlich reduziert werden (z. B. auch einvernehmlich in einem Erörterungstermin).

Fazit

Zahlreiche Gründe sprechen im Moment dafür, dass die Richtsatzsammlung nicht hinreichend transparent ist. Die Antwort des Bundesfinanzministeriums auf die parlamentarische Anfrage hat keine hinreichenden Schritte zu mehr Transparenz gebracht. Daher kann überlegt werden, in den entsprechenden Schätzungsfällen die betrieblichen Besonderheiten herausarbeiten und die fehlende Transparenz der Richtsatzsammlung zu rügen. Dies kann in Schlussbesprechungen, Einspruchs- und gerichtlichen Verfahren geschehen. Es bleibt zu hoffen, dass die Richtsatzsammlung in ihrer bisherigen Form künftig kritischer gesehen wird.


Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

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