Paukenschlag des Verfassungsgerichts gegen Blitzer – beste Verteidigungschancen! (Teil 1 von 2)

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Teil 1
Teil 2

Eine aktuelle Entscheidung des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs vom 05.07.2019 stärkt in wohl noch nie dagewesenem Umfang die Rechte geblitzter Verkehrsteilnehmer auf eine effektive Verteidigung gegen den staatlichen Vorwurf der Geschwindigkeitsüberschreitung. 

Messungen, bei denen der Gerätehersteller die Messdaten ganz oder teilweise löscht, verletzen Grundrechte der Betroffenen und dürfen hiernach nicht verwertet werden.

Kurz- bis mittelfristig darf bei zielgerichteter Argumentation des anwaltlichen Verteidigers mit der Einstellung unzähliger Bußgeldverfahren gerechnet werden, weil mit Ausnahme eines Produkts fast alle in Deutschland eingesetzten Geschwindigkeitsmessgeräte den Anforderungen der saarländischen Verfassungsrichter nicht gerecht werden und durch systematische Vernichtung eines Großteils der Messdaten durch die Gerätehersteller kein faires rechtsstaatliches Verfahren mehr möglich ist.

Gute Chancen auf eine Verfahrenseinstellung bestehen in allen (!) Bundesländern und bei nahezu allen eingesetzten Messverfahren. 

Wir stellen im ersten Teil unseres Beitrags die aktuelle Situation sowie das Verfassungsgerichtsurteil dar und im zweiten Teil die Auswirkungen des Urteils für geblitzte Verkehrsteilnehmer und geben zugleich Handlungsempfehlungen für diese Betroffenen. 

I. Status quo: Die Praxis der Geschwindigkeitsmessungen in Deutschland bis Juni 2019

Unzählige Verkehrsteilnehmer werden Tag für Tag auf Deutschlands Straßen geblitzt, weil sie die jeweils zulässige Geschwindigkeit überschritten haben sollen. In einigen Fällen mag dieser Tatvorwurf stimmen, in anderen hingegen nicht.

Darauf aber kommt es in rechtlicher Hinsicht gar nicht an. Entscheidend ist vielmehr, ob der Staat den von seinen Verfolgungsbehörden behaupteten Verkehrsverstoß auch beweisen kann.

Wir vertreten bereits seit vielen Jahren in mehreren tausend von hier geführten Bußgeldverfahren stets die Auffassung, dass für einen solchen Beweis nicht nur schriftliche Unterlagen und ein paar Daten erforderlich sind, sondern alle vom Gerät bei der Messung generierten Daten einer anwaltlichen Überprüfung offenstehen müssen. 

In der Realität ist aber das Gegenteil der Fall: 

Mit Ausnahme des sogenannten Einseitensensors ES 3.0, bei dem hinsichtlich der Messdaten Transparenz besteht, wird bei nahezu allen anderen auf dem Markt der Verkehrsüberwachung eingesetzten Geschwindigkeitsmessgeräten allenfalls ein kleiner Teil der eigentlich vorhandenen Messdaten gespeichert, der Rest hingegen entsorgt. Wir erblicken darin seit jeher eine systematische Vernichtung von Beweismitteln durch die Hersteller der Geräte.

Bedauerlich ist aus Verteidigersicht, dass bislang nur relativ wenige Gerichte diese Argumentation mittragen. Meistens begnügen sich Richter vielmehr damit, aufgrund der vorangegangenen Zulassungen der Geräte durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) und der grundsätzlichen Anerkennung der Geräte als standardisierte Messverfahren von Seiten der jeweils maßgeblichen Oberlandesgerichte nur das einer eher oberflächlichen Prüfung zu unterziehen, was eben vorhanden ist. 

Gibt es bestimmte Messdaten nicht (mehr), so sei dies eben hinzunehmen und ändere nichts daran, dass von einem verlässlichen Messergebnis auszugehen sei, bekommt man dann sinngemäß in der Hauptverhandlung häufig zu hören.

Derartige Haltungen dürften nun aber (endlich!) der Vergangenheit angehören.

II. Das Urteil des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs vom 05.07.2019 

Das nachfolgend dargestellte Urteil des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs vom 05.07.2019, das unsere seit langer Zeit vertretene Rechtsauffassung bestätigt, darf mit Fug und Recht als Meilenstein bezeichnet werden.

1.) Der zugrunde liegende Fall

Ein Verkehrsteilnehmer war vom Amtsgericht Saarbrücken am 28.03.2017 wegen einer angeblichen Geschwindigkeitsüberschreitung innerhalb geschlossener Ortschaften um 27 km/h zu einer Geldbuße von 100 € verurteilt worden. Er war am 17.06.2016 von einem Lasermessgerät vom Typ TraffiStar S 350 gemessen worden.

Die anwaltliche Verteidigung des Betroffenen hatte noch im vorangegangenen Verwaltungsverfahren u. a. die Herausgabe der Rohmessdaten in unverschlüsselter Form beantragt, aber nur spärliche Akteneinsicht erhalten.

Der von der Verteidigung privat beauftragte Sachverständige führte aus, dass eine unabhängige Geschwindigkeitskontrolle aufgrund der wenigen verbliebenen Daten nicht einmal annäherungsweise möglich sei.

Im gerichtlichen Hauptverhandlungstermin stellte die Verteidigung deswegen vergeblich den Beweisantrag, ein Sachverständigengutachten zu der Behauptung einzuholen, dass beim eingesetzten Messgerät aufgrund der Löschung von Messdaten die Möglichkeit ausgeschlossen sei, die Messung durch ein Sachverständigengutachten überprüfen zu lassen, sodass die Anerkennung als standardisiertes Messverfahren nicht mehr in Betracht komme. 

Die gegen das gleichermaßen ergangene Urteil des Amtsgerichts Saarbrücken begehrte Zulassung der Rechtsbeschwerde wurde vom Saarländischen Oberlandesgericht abgelehnt. 

Schlussendlich legte der Betroffene mit Hilfe seines Anwalts am 01.09.2017 Verfassungsbeschwerde ein, über die der Saarländische Verfassungsgerichtshof nun entschieden hat.

2.) Der Inhalt der Entscheidung des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs vom 05.07.2019

Unter dem Aktenzeichen Lv 7/17 hob das Verfassungsgericht nach umfangreichen Informationsanfragen und Anhörung diverser Sachverständiger das Ausgangsurteil des Amtsgerichts und die Rechtsbeschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts auf. 

Beide verletzten den Beschwerdeführer nämlich – anders als von Amts- und Oberlandesgericht angenommen – sowohl in seinem Grundrecht auf ein faires Verfahren, als auch in seinem Recht auf eine wirksame Verteidigung, nachdem sich die Verurteilung letztlich nur auf das dokumentierte Messergebnis und das Lichtbild des aufgenommenen Fahrzeugs und seines Fahrers stützt, Rohmessdaten für die aus Sachverständigensicht erforderliche technische Prüfung hingegen fehlen. Konkret heißt es im Urteil u. a.:

„Daraus folgt, dass der Verteidiger eines von einem Straf- oder Bußgeldverfahren Betroffenen nicht nur die Möglichkeit haben muss, sich mit den rechtlichen Grundlagen des gegen seinen Mandanten erhobenen Vorwurfs auseinanderzusetzen, sondern auch dessen tatsächliche Grundlagen auf ihr Vorliegen und ihre Validität prüfen zu dürfen. […]

[…] Solange der […] Gesetzgeber […] eine Verurteilung nicht allein von dem Ergebnis einer standardisierten Messung abhängig macht, dürfen Gerichte […] einen Betroffenen nicht verurteilen, ohne ihm zu gestatten, die Validität der standardisierten Messung zu prüfen. [...]

Zu den grundlegenden rechtsstaatlichen Anforderungen an die Verurteilung einer Bürgerin oder eines Bürgers gehört, dass er die tatsächlichen Grundlagen seiner Verurteilung zur Kenntnis nehmen, sie in Zweifel ziehen und sie nachprüfen darf. […] 

Staatliches Handeln darf, so gering belastend es im Einzelfall sein mag, und so sehr ein Bedarf an routinisierten Entscheidungsprozessen besteht, in einem freiheitlichen Rechtsstaat für die Bürgerin und den Bürger nicht undurchschaubar sein; eine Verweisung darauf, dass alles schon seine Richtigkeit habe, würde ihn zum unmündigen Objekt staatlicher Verfügbarkeit machen.

Dazu gehören auch die grundsätzliche Nachvollziehbarkeit technischer Prozesse, die zu belastenden Erkenntnissen über eine Bürgerin oder einen Bürger führen, und ihre staatsferne Prüfbarkeit zu den Grundvoraussetzungen freiheitlich-rechtsstaatlichen Verfahrens. […]

Rechtsstaatlichkeit verlangt nämlich auch die Transparenz und Kontrollierbarkeit jeder staatlichen Machtausübung (BVerfGE 123, 39 ff.). […]

Solange eine Messung […] nicht durch die Bereitstellung der Datensätze – einschließlich auch der Statistikdatei – einer Nachprüfung durch die Verteidigung des Betroffenen zugänglich ist, würde der alleinige Verweis auf die Verlässlichkeit der Konformitätsprüfung […] schlicht bedeuten, dass Rechtsuchende auf Gedeih und Verderb der amtlichen Bestätigung der Zuverlässigkeit eines elektronischen Systems und der es steuernden Algorithmen ausgeliefert wären. Das ist nach der Überzeugung des Verfassungsgerichtshofs weder bei Geschwindigkeitsmessungen, noch in den Fällen anderer standardisierter Messverfahren […] rechtsstaatlich hinnehmbar.“ 

Im zweiten Teil unseres Beitrags informieren wir darüber, welche Auswirkungen das angesprochene Urteil des Saarländischen Verfassungsgerichtshofs auf die Praxis der Geschwindigkeitsmessungen in den jeweiligen Bundesländern Deutschlands haben dürfte. 

Geblitzten Verkehrsteilnehmern werden abhängig vom eingesetzten Messverfahren klare Empfehlungen zur Verteidigung gegen den Vorwurf der Geschwindigkeitsüberschreitung gegeben.

Dr. Sven Hufnagel

Fachanwalt für Verkehrsrecht

Dr. jur. Sven Hufnagel ist seit 15 Jahren als Rechtsanwalt tätig und bearbeitet auf höchstem Verteidiger-Niveau und im gesamten Bundesgebiet vor allem Bußgeldverfahren im Verkehrsbereich. In den Jahren 2015 bis 2019 ist er durchgehend in der „Focus-Liste“ als „Top-Anwalt für Verkehrsrecht“ aufgeführt.


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