Richterliche Beweiswürdigung: Verurteilung bei Aussage gegen Aussage – geht das?

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Von einer Situation „Aussage gegen Aussage“ spricht man, wenn außer der Belastungsaussage des Opfer-Zeugen keine sonstigen unmittelbaren Beweismittel vorhanden sind, mittels derer der den Tatvorwurf bestreitende oder schweigende Angeklagte überführt werden kann. Oft wird angenommen, dass in einer solchen Situation ein Art "Patt" vorliege, ein Freispruch die einzig logische Konsequenz sein müsse. Das ist ein Irrtum. Er beruht auf einem falschen Verständnis des Grundsatzes „im Zweifel für den Angeklagten“ (in dubio pro reo). Auch in Situationen von Aussage gegen Aussage kann eine Verurteilung erfolgen, tatsächlich sind solche Urteile sind in der täglichen Gerichtspraxis Gang und Gäbe.


Wann ist eine Verurteilung nur aufgrund der Aussage des Opfer-Zeugen möglich? Was ist mit „in dubio pro reo“?

In einer Situation von Aussage gegen Aussage ist es die Aufgabe des Richters, beide Seiten anzuhören, ihre Aussagen gründlich zu analysieren und auf dieser Grundlage über das Ergebnis der Beweisaufnahme zu entscheiden. Das Gesetz stellt dem Richter in dieser Situation nur eine einzige Frage: Wessen Version – die des Angeklagten oder die des Opfers – entspricht seiner (subjektiven) inneren Überzeugung nach der (objektiven) Wahrheit? Gelangt der Richter hiernach zu dem eindeutigen Ergebnis, dass die Aussage des Opfers wahr ist, muss er diese Überzeugung zur Grundlage seines Urteils machen und den Angeklagten gemäß dem Tatvorwurf für schuldig befinden. Für eine Anwendung des Grundsatzes „im Zweifel für den Angeklagten“ ist in diesem Fall kein Raum. Denn es fehlt bereits an dessen Eingangsvoraussetzung: dem Zweifel. Anders ausgedrückt: der Zweifelssatz kann nur angewendet werden, wenn der Richter nach der gründlichen Analyse beider Aussagen zu keinem eindeutigen Ergebnis gelangt, sich also weder von der Wahrheit noch von der Unwahrheit der einen oder der anderen Aussage zweifelsfrei überzeugen konnte.


Wie funktioniert der Prozess der "Beweiswürdigung" genau? Ist das nicht alles sehr subjektiv?

In seiner Würdigung der Beweisergebnisse ist der Richter frei (§ 261 StPO). Das Gesetz schreibt keine Regeln für die Art und Weise vor, in der der Richter die die Beweise zu bewerten und zu gewichten hat. Das heißt selbstverständlich nicht, dass an dieser Stelle ein großes Raten und Vermuten ins Blaue hinein beginnt. Aber es heißt ebenso selbstverständlich nicht, dass ein detailliert prognostizierbarer Prozess der "Würdigung" einsetzt, der bei denselben Beweisergebnissen bei allen Richtern zum selben Ergebnis führen muss oder auch nur könnte. Es verbleibt hier immer – und hier muss man sich ehrlich machen – ein beträchtlicher Rest an subjektivem Spielraum. Diesen Spielraum wahrzunehmen, ist „ureigenste Aufgabe des Tatrichters“, wie es in den Urteilen des Bundesgerichtshofs immer so schön heißt. Mit Willkür hat das im Ausgangspunkt nichts zu tun. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass es im Einzelnen nicht auch (viele) Urteile gibt, bei denen dieser Spielraum mehr oder weniger willkürlich gehandhabt wurde.


Wie bin ich gegen „richterliche Willkür“ geschützt?

Gegen Willkür bei der Ausübung dieses subjektiven Spielraums ist der Angeklagte vor allem dadurch geschützt, dass ein Richter, wenn er einen Angeklagten verurteilen möchte, letztlich ein Urteil schreiben muss, das mit Rechtsmitteln angegriffen werden kann. Es reicht für ein „revisionsfestes“ Urteil – also ein Urteil, das einer letztinstanzlichen Überprüfung durch das Revisionsgericht standhält, selbstverständlich nicht aus, dass der Richter in seiner Urteilsbegründung nur kurz mitteilt, dass er „gewissenhaft in sich gegangen“ und daraufhin zu dieser oder jener Überzeugung gelangt sei. Dies würde rechtsstaatlichen Anforderungen offenkundig nicht gerecht. Seine Überzeugungsbildung – also der Weg, auf dem er zu seiner Überzeugung gelangt ist – muss der Richter in seinen Urteilsgründen detailliert darstellen und begründen. Der Bundesgerichtshof sagt dazu: die innerliche Überzeugung des Richters muss im Urteil „intersubjektiv vermittelbar“ gemacht werden, was letztlich nichts anderes heißt als dass ein Dritter, der die Urteilsbegründung liest, in der Lage sein muss, die Überzeugungsbildung des Richters nachzuvollziehen. Der Gang und das Ergebnis der Beweiswürdigung müssen diskutierbar sein. Die angestellten Erwägungen und gezogenen Schlussfolgerungen müssen nicht zwingend im Sinne von unumstößlichen Wahrheiten sein, die so und nur so lauten können, sie müssen allerdings auf einer objektiven Tatsachengrundlage aufbauen, rational und in sich stimmig sein und eine hinreichende Plausibilität aufweisen. 

Weil die Verteidigungsmöglichkeiten des Angeklagten in einer Situation von Aussage gegen Aussage stark eingeschränkt sind, betont der Bundesgerichtshof immer wieder, dass in diesen Fällen die Belastungsaussage des Opfer-Zeugen einer besonders eingehenden Glaubhaftigkeitsprüfung zu unterziehen ist, die methodischen Mindeststandards zu genügen hat. Das zentrale „Werkzeug“ zur Prüfung einer Aussage auf ihren Wahrheitsgehalt ist dabei die sogenannte Aussageanalyse. In deren Mittelpunkt stehen die sogenannten „Realitätskennzeichen“. Die „Realitätskennzeichen“ sind maßgeblich geprägt durch Erkenntnisse aus der modernen Vernehmungspsychologie. Einige der wichtigsten Kennzeichen, anhand derer Richter die Aussage eines Opfers-Zeugen zu überprüfen und anschließend ihre Überzeugung zu begründen haben sind folgende: 

  • Detaillierung: Enthält die Aussage viele spezifische Details, insbesondere auch zu Nebensächlichem, die auf genaue Beobachtung hinweisen? 

  • Konstanz: Bleibt die Aussage über die Zeit und in verschiedenen Situationen konstant? 

  • Widerspruchsfreiheit: Gibt es innere Widersprüche oder Inkonsistenzen in der Aussage? 

  • Originalität: Gibt es einzigartige oder unerwartete Details in der Aussage? 

  • Gefühlsschilderung: Werden emotionale Reaktionen oder Befindlichkeiten in der Aussage beschrieben? 

  • Strukturgleichheit: Ist die Aussage logisch und kohärent aufgebaut? 

  • Homogenität: Steht die Aussage im Einklang mit anderen bekannten Fakten? 

Zur Beurteilung weiterhin relevant sind: 

  • Das Bestehen eines Falschbelastungsmotivs wie z.B. Rache, Eifersucht 

  • Die Entstehungsgeschichte der Aussage, vor allem ein möglicher Einfluss durch Dritte 

  • Die Aussagekompetenz, welche zum Beispiel bei kindlichen Zeugen oder psychischen Auffälligkeiten fraglich seien kann. Zu fragen ist, ob die Aussage auch durch Parallelerlebnisse oder reine Erfindung erklärbar sein kann. 

Ein Urteil muss erkennen lassen, dass sich der Richter der Notwendigkeit einer besonders sorgfältigen Aussageanalyse bewusst war. Wurde eine Aussage nicht anhand von mehreren Realitätskriterien validiert bzw. lässt ein Urteil hierzu ausreichende Ausführungen vermissen, wird es in der Revision keinen Bestand haben.


Warum sollte ich mir in Situationen von Aussage gegen Aussage unbedingt einen Anwalt nehmen?

Ebenso wie es die „ureigene Aufgabe“ des Tatrichters ist, den oben dargestellten subjektiven Spielraum bei der Würdigung der Beweise – hier der beiden sich entgegenstehenden Aussagen – nach bestem Wissen und Gewissen wahrzunehmen, ist es die Aufgabe des Verteidigers, berechtigte Zweifel an der Glaubhaftigkeit der den Angeklagten belastenden Aussage zu schüren. Dieses Überzeugen und Beeinflussen des Gerichts ist täglich Brot der Verteidigertätigkeit und zeichnet einen guten Strafverteidiger aus.


Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

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