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Scheinselbstständigkeit bei Lehrern, Dozenten, Trainern, Coaches und Erziehern

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Vollzieht das Bundessozialgericht eine Kehrtwende?


Rentenversicherungspflicht selbstständiger Lehrer

Selbstständig tätige Lehrer und Erzieher sind in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig (§ 2 Nr. 1 SGB VI). Streitig ist allerdings oft die Frage, OB eine Lehrtätigkeit tatsächlich selbstständig ausgeübt wird oder ob nicht vielmehr ein Anstellungsverhältnis an einer Schule oder einer sonstigen Bildungseinrichtung besteht. Die Unterscheidung ist von erheblicher Bedeutung, denn zahlreiche Bildungsträger arbeiten nicht nur mit festangestellten Lehrern, sondern auch und zum Teil sogar überwiegend mit freiberuflichen Dozenten.


Der Begriff des Lehrers im Sozialversicherungsrecht

Der Begriff des Lehrers wird von den Gerichten sehr weit gefasst. Lehrtätigkeit im Sinne des Gesetzes ist nicht nur das Unterrichten an Schulen, Universitäten, Hochschulen, Volkshochschulen und sonstigen Bildungseinrichtungen, sondern schlechthin das Übermitteln von Wissen, Können und Fertigkeiten in Form von Gruppen- oder Einzelunterricht. Unter den Begriff Lehrer und Erzieher fallen auch sonstige Dozenten, Trainer, Übungsleiter in Sportvereinen und ggf. auch Coaches. Entscheidend ist nicht die sprachliche Bezeichnung, sondern der Inhalt der Tätigkeit.


Die allgemeinen Kriterien zur Abgrenzung von Beschäftigung und Selbstständigkeit

Der Begriff der versicherungspflichtigen Beschäftigung ist gesetzlich nicht exakt definiert, sondern wird von den Sozialgerichten anhand von Indizien bestimmt. Ein versicherungspflichtiger Arbeitnehmer ist vom Arbeitgeber persönlich abhängig. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert und hinsichtlich Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung weisungsgebunden ist. Eine selbstständige Tätigkeit ist dagegen durch ein eigenes Unternehmerrisiko, eine eigene Betriebsstätte und eigene Betriebsmittel, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft und die im wesentlichen freigestellte Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbstständig tätig ist, hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen. Maßgebend ist das Gesamtbild der Arbeitsleistung. Diese allgemeinen Kriterien werden praktisch in jeder Gerichtsentscheidung aufgezählt, in der es um Statusfragen geht.


Sonderregelungen für Lehrer

Da das Gesetz grundsätzlich anerkennt, dass Lehrer und Erzieher selbstständig tätig sein können, hatte das Bundessozialgericht Kriterien herausgearbeitet, nach denen selbstständige von beschäftigten Lehrern abgegrenzt werden können, z.B. (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):


  • Honorarverträge werden zeitlich begrenzt (semesterweise oder für einzelne Kurse) vereinbart,
  • eine Vergütung wird nur für tatsächlich geleistete Unterrichtsstunden gewährt, bei Unterrichtsausfall besteht kein Vergütungsanspruch, ein Unterrichtsausfall ist gegebenenfalls nachzuholen oder eine Vertretung in Absprache mit anderen Dozenten vom Auftragnehmer (Lehrer/Dozent) selbst zu organisieren,
  • es besteht keine Verpflichtung, Vertretungsstunden oder Verwaltungstätigkeiten der Schule zu übernehmen,
  • Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wird nicht gewährt,
  • Urlaubsgeld wird nicht gewährt,
  • Kurse werden nur bei einer hinreichenden Zahl von Anmeldungen veranstaltet, bei Nichtzustandekommen eines Kurses besteht kein Honoraranspruch,
  • Dozenten sind in der inhaltlichen und methodischen Gestaltung des Unterrichts frei und unterliegen keinem Weisungsrecht des Auftraggebers.

Gegen eine Selbstständigkeit spricht noch nicht, dass der Unterricht in den Räumlichkeiten des Bildungsträgers stattfindet und die äußere Organisation vorgegeben wird (z.B. Raumplan, Stundenplan). Unschädlich ist es auch, wenn die Lehrkraft an Konferenzen teilnimmt, sofern dies gesondert vergütet wird.


Bundessozialgericht - Urteil vom 12.02.2004 – B 12 KR 26/02 R


In nachfolgenden Entscheidungen der Instanzgerichte wurde dieses Urteil praktisch immer zitiert und die vorstehend genannten Kriterien aufgezählt und durchdekliniert. Auch das Bundessozialgericht selbst berief sich auf die Entscheidung vom 12.02.2004, z.B. im Urteil vom 14.03.2018, B 12 R 3/17 R, Rdnr. 13.


Kehrtwende?

Nun hat das BSG in einem Urteil vom 28. Juni 2022 - B 12 R 3/20 R im Fall einer Musiklehrerin an einer städtischen Musikschule, die freiberuflich auf Honorarbasis tätig war, jedoch ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis festgestellt. Die Vorinstanz, Landessozialgericht Baden-Württemberg, hatte dagegen eine Selbstständigkeit bejaht. Das Besondere dieser Entscheidung ist nicht die Feststellung der Versicherungspflicht an sich. Das Ergebnis ist selbst unter Berücksichtigung der o.g. Sonderkriterien nachvollziehbar. Erstaunlich ist vielmehr, dass das BSG diese Sonderkriterien überhaupt nicht erwähnt. Auch das frühere Urteil vom 12.02.2004 wird nicht einmal angesprochen. Stattdessen wird ausdrücklich festgestellt, dass für die Abgrenzung zwischen Beschäftigung und Selbstständigkeit die allgemeinen Kriterien gelten und eine Differenzierung für einzelne Berufsgruppen nicht zulässig sein soll. Das gelte auch für Tätigkeiten, die im Rahmen der Kunstgattung „Musik“ verrichtet werden.


BSG – U.v. 28. Juni 2022 - B 12 R 3/20 R


Diese Entscheidung dürfte auf eine Abkehr von der bisherigen Sonderrechtsprechung für Lehrer und Erzieher hinauslaufen mit der Folge, dass künftig viele Lehrer- und Dozententätigkeiten als Beschäftigungsverhältnisse zu werten sein und unter die allgemeine umfassende Sozialversicherungspflicht in allen Zweigen der gesetzlichen Sozialversicherung fallen werden.


Vertrauensschutz für die Vergangenheit?

Damit stellt sich automatisch die Frage, wie mit bereits bestehenden Honorarverträgen umzugehen ist, die unter Berücksichtigung und vor allem im Vertrauen auf die bisherige Rechtsprechung gestaltet wurden. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen hat sich bereits in einem Urteil vom 20.12.2022 mit dieser Frage befasst und entschieden, dass das Vertrauen in die bisherige langjährige höchstrichterliche Rechtsprechung zur sozialrechtlichen Statusbeurteilung bei Lehrkräften schutzwürdig und die vom Bundessozialgericht mit Urteil vom 28. Juni 2022 - B 12 R 3/20 R - intendierte Neuausrichtung für zurückliegende Zeiträume noch nicht zu berücksichtigen ist.


LSG Niedersachsen-Bremen – Urteil vom 20.12.2022 - L 2 BA 47/20


Wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache wurde jedoch die Revision zum Bundessozialgericht zugelassen. Dort ist das Revisionsverfahren zum Aktenzeichen B 12 BA 3/23 R anhängig.


Gestaltung in der Zukunft

Für die Zukunft dürfte es unausweichlich sein, Verträge im Bereich der lehrenden Berufe ausschließlich nach den allgemeinen Kriterien zu gestalten. Außerdem ist dringend anzuraten, neue Verträge umgehend im Statusklärungsverfahren einer Kontrolle zu unterziehen.



Dieser Beitrag dient zur allgemeinen Information und entspricht dem Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung. Eine individuelle Beratung wird dadurch nicht ersetzt. Jeder einzelne Fall erfordert fachbezogenen Rat unter Berücksichtigung seiner konkreten Umstände. Ohne detaillierte Beratung kann keine Haftung für die Richtigkeit übernommen werden. Vervielfältigung und Verbreitung nur mit schriftlicher Genehmigung des Verfassers.



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