Stellt das heimliche Abstreifen eines Kondoms (sog. Stealthing) einen sexuellen Übergriff dar?

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Der sexuelle Übergriff gemäß § 177 Abs. 1 StGB 

Der § 177 StGB schützt die sexuelle Selbstbestimmung, also die Freiheit über Zeitpunkt, Art und Partner sexueller Betätigung nach eigenem Belieben zu entscheiden. Der § 177 StGB hat im Zuge der 2016 erfolgten Reform des Sexualstrafrechts besonders durchgreifende Änderungen erfahren und regelt in seiner Neufassung neben der Strafbarkeit wegen Vergewaltigung auch die Strafbarkeit wegen sexuellen Übergriffs und sexuellen Missbrauchs.  

Wegen sexuellen Übergriffs wird gemäß § 177 Abs. 1 StGB mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft, wer

  • gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder vornehmen lässt oder
  • diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt.

Durch den Straftatbestand des sexuellen Übergriffs gemäß § 177 Abs. 1 StGB sollen sexuelle Handlungen erfasst werden, mit denen sich der Täter über den entgegenstehenden Willen des/der Geschädigten hinwegsetzt und so das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung verletzt.

Die Erkennbarkeit des entgegenstehenden Willens ist dabei aus der Sicht eines objektiven Dritten zu bestimmen. Danach wird von einer Erkennbarkeit ausgegangen, wenn der/die Geschädigte den entgegenstehenden Willen zum Tatzeitpunkt entweder ausdrücklich oder konkludent zum Ausdruck bringt. Dass man mit einer Handlung nicht einverstanden ist, kann man durch ein einfaches „Nein“ oder „Hör auf“ signalisieren. Aber auch ein Kopfschütteln, sich sträuben, weigern oder Weinen soll genügen. Ein rein mentaler Vorbehalt genügt hingegen nicht. Auch ein rein lustloser Gesichtsausdruck ist nicht genug. Dass man mit der Handlung nicht einverstanden ist, muss schon irgendwie deutlich zum Ausdruck kommen.

Stellt auch das heimliche Abstreifen eines Kondoms einen sexuellen Übergriff dar?

Das Berliner Kammergericht sah sich in seiner Entscheidung vom 27. Juli 2020 (4 Ss 58/20, 161 Ss 48/20) mit der Frage konfrontiert, ob auch das heimliche Abstreifen eines Kondoms (sog. Stealthing) einen sexuellen Übergriff gemäß § 177 Abs. 1 StGB darstellt.

Der Entscheidung lag der folgende Sachverhalt zugrunde:

Der Angeklagte und eine Frau hatten sich auf einer Online-Dating-Seite kennengelernt und zu einem Treffen in der Wohnung des Angeklagten verabredet. Dort waren sie sich körperlich nähergekommen und hatten schließlich einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. Die Frau hatte dem Angeklagten zuvor mehrfach deutlich gesagt, dass sie auf keinen Fall Geschlechtsverkehr ohne Kondom haben möchte. Der Angeklagte entfernte im Verlauf des Geschlechtsverkehrs dennoch heimlich das Kondom und vollzog den Geschlechtsverkehr ungeschützt ohne Kondom bis hin zum Samenerguss. Aufgrund des früheren wiederholten eindringlichen und ernsthaften Insistierens der Frau war ihm dabei auch bewusst, dass der von ihm herbeigeführte ungeschützte Geschlechtsverkehr sowie die Ejakulation in ihrer Vagina gegen den Willen der Frau erfolgten.

Der Angeklagte war durch das Amtsgericht Tiergarten daher wegen sexuellen Übergriffs gemäß § 177 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt worden. Das Landgericht Berlin hatte die Strafe dann im Berufungsverfahren zwar auf sechs Monate Freiheitsstrafe heruntergesetzt, die Rechtsauffassung des erstinstanzlichen Urteils aber weitgehend bestätigt.

Die Entscheidung des Kammergerichts: Heimliches Abstreifen des Kondoms beim Geschlechtsverkehr ist strafbar

Das Berliner Kammergericht schloss sich der Argumentation der Vorinstanzen an und führte in seiner Entscheidung aus, dass das Handeln des Angeklagten einen sexuellen Übergriff darstellt.

Zwar sei die Frau mit dem Geschlechtsverkehr als solchem einverstanden gewesen, jedoch umfasse das von § 177 Abs.1 StGB geschützte Rechtsgut der sexuellen Bestimmung auch die Freiheit der Person, über Zeitpunkt, Art, Form und Partner sexueller Betätigung nach eigenem Belieben zu entscheiden. Demnach sei der Rechtsgutinhaber nicht nur frei in seiner Entscheidung darüber, ob überhaupt Geschlechtsverkehr stattfinden soll, sondern auch darüber, unter welchen Voraussetzungen er mit einer sexuellen Handlung einverstanden ist. Die sexuelle Handlung des Angeklagten habe dem Willen der Frau  hier unmissverständlich widersprochen.

Insbesondere die Tatsache, dass der Angeklagte die Frau nicht nur gegen ihren Willen in ungeschützter Form penetriert, sondern im weiteren Verlauf dieses ungeschützten Geschlechtsverkehrs darüber hinaus in ihren Körper ejakuliert hat, habe die Tathandlung wesentlich geprägt. Daran, dass die Frau gegen ihren zuvor mehrfach geäußerten Willen das Ejakulat des Angeklagten in den Körper aufnehmen musste, zeige sich, dass es sich beim Fehlen des Kondoms nicht nur um einen bloßen Begleitumstand der Penetration handele. Denn die sexuelle Handlung des Geschlechtsverkehrs sei nicht notwendig mit einem Samenerguss im Körper des/der Geschädigten verbunden. Wichtig sei hierbei stets der Wille des Rechtsgutsträgers.

Die Revision des Angeklagten hatte folglich keinen Erfolg.

Hilfe durch einen Fachanwalt für Strafrecht 

Dieser Beitrag wurde von Rechtsanwalt Dietrich erstellt. Rechtsanwalt Dietrich tritt bereits seit vielen Jahren deutschlandweit als Strafverteidiger auf. Wenn Ihnen vorgeworfen wird, sich wegen eines sexuellen Übergriffs strafbar gemacht zu haben, können Sie unter den angegebenen Kontaktdaten einen Besprechungstermin mit Rechtsanwalt Dietrich vereinbaren. Alternativ können Sie Rechtsanwalt Dietrich auch eine E-Mail schreiben.


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