Verordnung von medizinischem Cannabis: Was muss im Arztfragebogen stehen?

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Das Bundessozialgericht hat mit dem Urteil vom 10.11.2022, B 1 KR 28/21 R (dort insbesondere Rn. 24-36) die zu stellenden Anforderung an die "begründete Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes" (=Arztfragebogen) bei der Verordnung von mediziniachem Cannabis gem. § 31 Abs. 6 SGB 5 herausgestellt.


Die Entscheidung ist aber bis auf weiteres der Standard in gerichtlichen und außergerichtlichen Verfahren und sollte daher dringend schon bei der Antragstellung beachtet werden.


Welche Inhalte der „begründeten Einschätzung“ sind erforderlich?


Der notwendige Inhalt der begründeten Einschätzung bestimmt sich nach dem Wortlaut von § 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst b SGB V und den aus dem Betäubungsmittel- und Arzthaftungsrecht abzuleitenden Vorgaben (Rn. 32 der o. g. Entscheidung).


Im Rahmen der der Abwägung zugrunde liegenden Tatsachen, die maßgeblich für die Frage sind, ob eine Standardtherapie zur Anwendung kommen kann, soll der Vertragsarzt folgende Angaben machen (Rn. 32 ff. ebenda):


die mit Cannabis zu behandelnde(n) Erkrankung(en), ihre Symptome und das angestrebte Behandlungsziel. Das Behandlungsziel muss entweder in einer Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome der Erkrankung bestehen


der Krankheitszustand mit den bestehenden Funktions- und Fähigkeitseinschränkungen aufgrund eigener Untersuchung des Patienten und ggf. unter Hinzuziehung von Befunden anderer behandelnder Ärzte, einschließlich eines evtl. Suchtmittelgebrauchs in der Vergangenheit sowie das Bestehen oder der Verdacht einer Suchtmittelabhängigkeit;


die zu erwartenden oder bereits aufgetretenen Nebenwirkungen der zur Verfügung stehenden, allgemein anerkannten und dem medizinischen Standard entsprechenden Leistungen


die bereits angewendeten Standardbehandlungen, deren Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und dabei aufgetretene Nebenwirkungen


alle noch verfügbaren Standardtherapien und deren zu erwartenden Erfolg im Hinblick auf das Behandlungsziel und die zu erwartenden Nebenwirkungen (Rn. 34 ebenda).


Es müssen sämtliche verfügbare Standardtherapien entweder durch den Vertragsarzt bereits erfolglos angewendet worden sein oder in die Abwägung einbezogen werden. 


In die Abwägung einfließen dürfen dabei nur Nebenwirkungen, die das Ausmaß einer behandlungsbedürftigen Erkrankung erreichen (Rn. 35 ebenda). Dabei ist darzulegen, warum zu erwartende Nebenwirkungen bei dem beschriebenen Krankheitszustand des Patienten auch im Hinblick auf das mögliche Erreichen der angestrebten Behandlungsziele nicht tolerierbar sind oder warum keine hinreichende Aussicht auf Erreichen des Behandlungsziels besteht, weil etwa Arzneimittel mit vergleichbarem Wirkmechanismus erfolglos geblieben sind (Rn. 36 ebenda).


Der Vertragsarzt kann dazu auch seine Patientendokumentation und die Befunde anderer behandelnder Ärzte der begründeten Einschätzung beifügen und auf diese verweisen (Rn. 32 der o. g. Entscheidung).


Was ist im Fall eines Konsum von Cannabis oder anderen Drogen zu beachten?


Ob im Fall eines vorbestehenden Suchtmittelkonsums oder einer vorbestehenden Suchtmittelabhängigkeit eine Kontraindikation für die Behandlung mit Cannabis vorliegt, ist vom Vertragsarzt im jeweiligen Einzelfall abzuwägen und in der begründeten Einschätzung darzulegen. Er hat sich möglichst genaue Kenntnis vom bisherigen Konsumverhalten, möglichen schädlichen Wirkungen des bisherigen Konsums und einer eventuellen Abhängigkeit zu verschaffen. Auf dieser Grundlage unterfällt es seiner Beurteilung, ob eine Kontraindikation vorliegt oder welche Vorkehrungen gegen einen Missbrauch des verordneten Cannabis zu treffen sind (Rn. 38 ebenda).


Was ist der Vorteil einer vollständigen ärztlichen Einschätzung?


Gerichte und Krankenkassen dürfen die vom Vertragsarzt abgegebene begründete Einschätzung nur daraufhin überprüfen, ob die erforderlichen Angaben als Grundlage der Abwägung vollständig und inhaltlich nachvollziehbar sind, und das Abwägungsergebnis nicht völlig unplausibel ist. Die dem Vertragsarzt eingeräumte Einschätzungsprärogative schließt eine weitergehende Prüfung des Abwägungsergebnisses auf Richtigkeit aus. Insbesondere steht es Krankenkassen und Gerichten nicht zu, die Anwendbarkeit einer verfügbaren Standardtherapie selbst zu beurteilen und diese Beurteilung an die Stelle der Abwägung des Vertragsarztes zu setzen (Rn. 37 ebenda).


Was passiert ohne vollständige ärztlichen Einschätzung?


Erfahrungsgemäß prüfen die Krankenkassen die Vollständigkeit bereits im Antragsverfahren und lehnen den Antrag ab. Sozialgerichte prüfen dies ebenso und weisen ggf. die Klage ab. Allerdings ist eine Nachreichung einer vollständigen ärztlichen Einschätzung bis zum Ende der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht möglich.


Gerne vertrete ich Sie in entsprechenden Verfahren oder berate, ob Ihr Arztfragebogen voraussichtlich ausreichend ist. Nehmen Sie gerne Kontakt auf.



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