Völkermord in Gaza - Nicaragua geht gegen Deutschland vor

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Am 1. März 2024 hat Nicaragua vor dem Hintergrund des Verfahrens Südafrika gegen Israel wegen Völkermords in Gaza beim Internationalen Gerichtshof (IGH) eine Klage  gegen Deutschland eingereicht und beantragt, Deutschland folgende vorläufige Maßnahmen aufzuerlegen, die grob übersetzt wie folgt lauten:

(1) Deutschland setzt mit sofortiger Wirkung sämtliche Unterstützung an Israel aus, insbesondere seine militärische Unterstützung einschließlich der Lieferung militärischer Ausrüstung, soweit diese zur Verletzung der Genfer Konvention, humanitärem Völkerrecht oder sonstigem zwingenden allgemeinem Völkerrecht wie dem Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung und auf Freiheit von einem Apartheid-System benutzt werden kann

(2) Deutschland unternimmt mit sofortiger Wirkung jegliche Anstrengung, um sicherzustellen, dass diejenigen Waffen, die es bereits an Israel geliefert hat, nicht zur Begehung von Völkermord benutzt werden, nicht zu genozidalen Akten beitragen oder in einer Art und Weise benutzt werden, dass humanitäres Völkerrecht verletzt wird

(3) Deutschland unternimmt mit sofortiger Wirkung jegliche Anstrengung, um seine Verpflichtungen unter dem humanitären Völkerrecht zu erfüllen

(4) Deutschland nimmt seine Entscheidung, die Finanzierung von UNRWA auszusetzen, zurück als Teil der Erfüllung seiner Verpflichtung, Völkermord, genozidale Akte und die Verletzung der Rechte der Palästinenser unter dem humanitären Völkerrecht zu verhindern, was auch die Verpflichtung einschließt, alles Menschenmögliche tun, damit humanitäre Hilfe das palästinensische Volk, speziell in Gaza, erreicht

(5) Deutschland muss dazu beitragen, die schweren Verletzungen des zwingenden Völkerrechts zu beenden, indem es seine Unterstützung von Israel, einschließlich der Lieferung von militärischer Ausrüstung, die zur Begehung schwerer Völkerrechtsverbrechen benutzt werden kann, beendet und indem es die Unterstützung für UNWRA fortsetzt, auf die diese Organisation bisher gezählt und seine Aktivitäten gestützt hat.

Außerdem bittet Nicaragua den Präsidenten des Gerichtshofs, Deutschland aufzufordern, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen und alle Handlungen zu unterlassen, die die Völkermordkonvention, die Genfer Konvention von 1949 und sein Zusatzprotokoll und andere zwingende Völkerrechtsnormen verletzen oder zu derartigen Verletzungen beitragen, um jeglichen Verfügungen, die der Gerichtshof erlassen könnte, effektive Wirkung zu verleihen.

In seiner Begründung zeigt Nicaragua ausdrücklich Verständnis dafür, dass Israel auf die Angriffe vom 7 Oktober 2023 reagieren und seine Bürger schützen musste und gesteht zu, dass es "verständlich" sei, dass Staaten wie Deutschland, die dem Staat Israel freundlich gesonnen sind, eine angemessene Reaktionen auf diesen Angriff unterstützen würden; dies könne jedoch nicht Verletzungen des Völkerrechts rechtfertigen.

Angeprangert wird die fortgesetzte Unterstützung Israels durch Deutschlands Regierung in politischer, militärischer und finanzieller Hinsicht "trotz des Bewusstseins, dass die Militäraktionen in den besetzten palästinensischen Gebieten, insbesondere in Gaza, in kompletter Missachtung unter anderem des internationalen humanitären Völkerrechts durchgeführt wurden". Hervorgehoben wird die Lieferung von Munition für Maschinengewehre, von Landfahrzeugen sowie von Technologie für die Entwicklung, Herstellung, Benutzung, Wartung und Reparatur von Waffen. 

Am 12. Oktober 2023, als die Illegalität der Aktionen Israels bereits offensichtlich war, habe der deutsche Bundeskanzler die volle Unterstützung von Israels Militärkampagne bekräftigt und gleichzeitig ausdrücklich angekündigt, die Entwicklungszusammenarbeit mit den palästinensischen Territorien zunächst nicht weiterzuführen. Zwei deutsche Heron-Drohnen seien sofort gegen die Palästinenser eingesetzt worden, was nachweislich zu weitgehenden Zerstörungen geführt habe.

Anfang November 2023 hätten sich deutsche Waffen-Exportgenehmigungen für Israel - großenteils mit Dringlichkeit behandelt - gegenüber dem Vorjahr verzehntfacht.

Am 23. November 2023 habe sich der deutsche Bundeskanzler öffentlich gegen den dringend erforderlichen Waffenstillstand oder eine längere Waffenruhe ausgesprochen, zu einem Zeitpunkt, als Experten der Vereinten Nationen bereits vor "genozidaler und entmenschlichender Rhetorik" von hohen israelischen Regierungsbeamten warnten.

Bis Ende 2023 habe die deutsche Regierung militärische Ausrüstung im Wert von 326.505.156 Euro für Israel genehmigt und noch im Januar 2024 habe Israel die Zusage für 10.000 120-Millimeter "Rheinmetall-Präzisions-Runden" erhalten; dabei habe Deutschland sich sogar bereiterklärt, wegen der besonderen Dringlichkeit die Waffen aus seinen eigenen Beständen zu liefern.

Am 27. Januar 2024, also genau einen Tag nachdem der IGH seine Eilentscheidung gegen Israel wegen des Verdachts des Völkermordes erlassen hatte, informierte Deutschland UNWRA - das Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge, dass es seine Finanzierung aussetzen werde, und zwar alleine aufgrund einer - bisher unbewiesenen - Äußerung Israels, dass 12 seiner 13.000 Mitarbeiter in die Angriffe vom 7. Oktober 2023 involviert gewesen seien.

Der Antrag Nicaraguas gegen Deutschland geht insofern weiter als derjenige Südafrikas gegen Israel, als er nicht nur die Einhaltung der Völkermordkonvention gegenüber der Bevölkerung Gazas, sondern die Einhaltung des gesamten zwingenden Völkerrechts unter Einschluss des Rechts auf Selbstbestimmung und des Verbots der Apartheid im Verhältnis zum gesamten palästinensischen Volk einfordert und insofern auch an das ebenfalls schwebende Parallelverfahren vor dem IGH betreffend die Situation in den besetzten palästinensischen Gebieten anknüpft.

Warum geht Nicaragua gegen Deutschland und nicht gegen die Israel noch weitaus mehr unterstützenden Vereinigten Staaten vor? Eine Antwort: Im Gegensatz zu Deutschland haben sich die USA nicht generell dem IGH unterworfen und selbst betreffend die Völkermordkonvention eine Reihe von Vorbehalten abgegeben; der Wichtigste lautet, dass der IGH gegen die USA selbst wegen Völkermordes nur mit deren Zustimmung im Einzelfall tätig werden kann.

Man darf gespannt sein, für wann der Gerichtshof für die Eilanträge einen mündlichen Termin anberaumt und wie sich die Bundesregierung hier verteidigt.

Der IGH hat mittlerweile in einer Presseerklärung mitgeteilt, dass die mündliche Verhandlung am Montag, den 8. April 2024 (Vortrag Nicaraguas) und am Dienstag, den 9. April 2024 (Vortrag Deutschlands), jeweils von 10-12 Uhr vormittags, stattfindet. Es ist möglich, dass die Verhandlung von Al Jazeera (Englisch) live übertragen wird. In jedem Fall kann die Verhandlung live bei UN TV, dem Online-Fernsehsender der Vereinten Nationen, verfolgt werden.




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