Akteneinsicht im Steuerstrafverfahren

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Unzulässige Versagung der Akteneinsicht des Verteidigers vor Abschluss des Ermittlungsverfahrens und dessen Rechtsschutzmöglichkeiten

Eine effektive Verteidigung des Beschuldigten ist im (Steuer-)Strafverfahren nur möglich, wenn die Umstände, die dem Beschuldigten zur Last gelegt werden, bekannt sind. Das setzt die weitgehende und umfassende Kenntnis des vollständigen Inhalts der Strafakte voraus. Aufgrund dessen ist das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers gemäß § 147 Abs. 1 StPO, welches über die Verweisung in § 385 Abs. 1 AO auch im Rahmen des Steuerstrafverfahrens Anwendung findet, Kernstück der Verteidigung und für eine erfolgreiche Verteidigung unabdingbar.

In der Praxis stößt der Verteidiger vor dem Abschluss des Ermittlungsverfahrens mit seinem Akteneinsichtsgesuch nicht selten auf Schwierigkeiten. Die Staatsanwaltschaft, Betriebsprüfer und Steuerfahnder weisen gelegentlich den Antrag teilweise oder sogar vollständig zurück. In diesen Fällen muss geprüft werden, ob die Verweigerung der Akteneinsicht zulässig war, da ansonsten ein Verstoß gegen das Gebot des fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 EMRK) sowie des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) vorliegt. Das ist entscheidend von dem geschützten Umfang des Akteneinsichtsrechts abhängig. Sind Unterlagen nämlich bereits nicht vom Akteneinsichtsrecht umfasst, kann dieses bedingungslos versagt werden. Darüber hinaus ist eine Verweigerung nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Abschließend sollen in diesem Kurzbeitrag Rechtsschutzmöglichkeiten aufgezeigt werden, wie man sich gegen eine unzulässige Verweigerung zur Wehr setzen kann.

I. Umfang der Akteneinsicht

Das Akteneinsichtsrecht umfasst alle „Akten“, vgl. § 147 Abs. 1 S. 1 StPO. Dies sind alle vollständigen Unterlagen, die dem Gericht vorliegen oder ihm im Falle der Erhebung der Anklage nach § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegen wären (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 1983 – 2 BvR 864/81, Rn. 53). Es erstreckt sich auf sämtliche vom ersten Zugriff der Polizei oder Steuerfahndung (§ 163 StPO) an gesammelten ent- und belastenden Schriftstücke, wie Bild- und Tonaufnahmen, Fahndungsnachweise, Strafregisterauszüge, alle nach der Anklageerhebung entstandenen Aktenteile und die vom Gericht herangezogenen oder von der Staatsanwaltschaft nachgereichten Beiakten. Es darf kein belastendes Material zurückgehalten werden. Probleme ergeben sich hinsichtlich der Frage, welche Unterlagen dem Gericht nach § 199 Abs. 2 S. 2 StPO vorzulegen sind.

1. Handakte der Staatsanwaltschaft

Nach h. M. gilt das Akteneinsichtsrecht nicht für die Handakten der Staatsanwaltschaft (BGH, Urteil vom 18. Juni 2009 – 3 StR 89/09, Rn. 20). Hierbei handelt es sich um innerdienstliche Vorgänge (Abschnitt 186 Abs. 3 S. 1 RiStBV), da sie lediglich Durchschriften der Ermittlungsakte und ggf. Notizen enthalten, die für eine übersichtliche Zusammenstellung der Ermittlungsergebnisse verwertet worden sind. Es bestehe daher kein Grund zur Akteneinsicht. Problematisch ist jedoch, wenn in den Handakten verfahrensrelevante Dokumente versteckt und dadurch dem Akteneinsichtsrecht des Verteidigers entzogen werden. Die Staatsanwaltschaft muss als Organ der Rechtspflege nach § 160 Abs. 2 StPO zwar sowohl be- als auch entlastend ermitteln, es besteht jedoch stets die Möglichkeit, dass die Bewertung der Unterlagen fehlerhaft oder missbräuchlich erfolgt.

Eine umfassende Kontrolle findet insbesondere nicht durch die Aufklärungspflicht des Gerichts gem. § 244 Abs. 2 StPO statt, da das Gericht lediglich Ermittlungen anstellt, wenn es hierfür einen Anlass sieht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Januar 1983 – 2 BvR 864/81, Rn. 59, 609). Darauf könnte die Verteidigung mittels Beweisermittlungs- und Beweisanträgen gem. § 244 Abs. 3 bis 5 StPO zwar hinwirken, diese müssen aber durch die Angabe eines Beweisthemas und eines bestimmten Beweismittels (vgl. § 219 Abs. 1 Satz 1 StPO) konkretisiert werden, was dem Verteidiger regelmäßig mangels Kenntnis entsprechender Unterlagen nicht möglich sein wird. Ebenfalls kann ein Verwertungsverbot nicht ausreichend sein, da die Unterlagen auch entlastende Umstände enthalten können, die unter Umständen zu einem Freispruch oder einer Einstellung führen könnten. Ob und welche Unterlagen der Verteidiger daher einsehen möchte, muss von diesem selbst entschieden werden können.

2. Fallhefte des Betriebsprüfers und der Steuerfahndung

Gleiches muss für die Fallhefte der Betriebsprüfer und Steuerfahnder gelten, wenn man diese ebenfalls als „Handakten“ ansieht. Selbst wenn aufgrund des unterschiedlichen Wortlauts „-hefte“ und des erheblich umfangreicheren Inhalts der Fallhefte keine Vergleichbarkeit mit den Handakten der Staatsanwaltschaft angenommen wird, handelt es sich bei den Fallheften um Teile von Akten, sofern sie „irgendeine“ Bedeutung für das Steuerstrafverfahren haben können. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn in der Ermittlungsakte nicht der „rote Bogen“ des Betriebsprüfers enthalten ist. Es sollte dann angeregt werden, die Fallhefte als Beiakten hinzuzuziehen. Regelmäßig behaupten Bußgeld- und Strafsachenstellen, dass in der Ermittlungsakte das Wesentliche enthalten sei und aufgrund dessen eine Akteneinsicht nicht gewährt werden würde. Dem kann entgegengehalten werden, dass weder dem Betriebsprüfer noch dem Steuerfahnder diesbezüglich eine Prüfungskompetenz obliegt.

3. Betriebsprüfungsakte

Das Akteneinsichtsrecht betrifft auch die Akten anderer Behörden, worunter beigezogene Betriebsprüfungsakten des Finanzamtes fallen (OLG Rostock, Beschluss vom 07.07.2015 -20 Vas 2/15, NStZ 2016, 371 ff.). Ist eine Betriebsakte hingegen noch nicht beigezogen worden, lässt sich das Akteneinsichtsrecht nur damit begründen, dass es sich bei der Betriebsprüfungsakte um eine verfahrensbezogene Akte handelt, die zumindest potenzielle Beweisgeeignetheit besitzt und somit beizuziehen ist. Zur Akteneinsicht in die Betriebsprüfungsakte bedarf es nicht der Zustimmung der Finanzbehörde, da es sich wegen ihrer besonderen Stellung im Steuerstrafverfahren um keine Behörde „einer anderen Verwaltung“ im Sinne von Abschnitt 187 RiStBV handelt.

4. Steuergeheimnis nach § 30 AO

Grenze des Akteneinsichtsrechts bildet regelmäßig das Steuergeheimnis gem. § 30 AO, sofern es sich um Unterlagen handelt, die einen unbeteiligten Dritten betreffen. Die Unterlagen können nur dann offenbart werden, wenn der Dritte vom Steuergeheimnis entbindet oder die Offenbarung der Steuerakte gem. § 30 Abs. 4 Nr. 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 1 Buchst. b AO der Durchführung des Steuerstrafverfahrens dient. Dies ist zumindest dann der Fall, wenn die Unterlagen in die Akte des Beschuldigten geheftet werden, da hierzu ohne Verfahrensbezug kein Anlass bestünde.

II. Verweigerung der Akteneinsicht

1. Gefährdung des Untersuchungszwecks

Die Akteneinsicht darf vor dem Abschluss der Ermittlungen nur verwehrt werden, wenn sie gem. § 147 Abs. 2 StPO den Untersuchungszweck gefährden könnte. Hierzu reicht zumindest keine vage und entfernte Möglichkeit einer Gefährdung aus. Die Behörde muss plausibel darlegen, welche konkreten Bestandteile der Akte aufgrund einer Gefährdung des Untersuchungszwecks von der Akteneinsicht ausgenommen werden müssten. Kann sie dies nicht, ist zumindest im Übrigen Akteneinsicht zu gewähren. Der regelmäßig von den Behörden verwendete Hinweis auf den Gesetzeswortlaut reicht ebenso wenig aus wie eine pauschale Begründung, die Akteneinsicht werde die weitere Sachaufklärung beeinträchtigen, da es sich bei der Entscheidung über die Akteneinsicht um eine Einzelfallentscheidung handelt. Ebenfalls nicht ausreichend ist der Hinweis, die Akten seien zurzeit versandt. Hier sollte ein Hinweis auf Abschnitt 12 Abs. 2 RiStBV erfolgen, wonach die Behörde Doppelakten anzulegen hat.

Sogar bei einer bevorstehenden Durchsuchung halte ich die Verweigerung der Akteneinsicht nach § 147 Abs. 2 StPO im Steuerstrafverfahren nicht für zulässig. Durch die papiermäßige Begehungsweise im Steuerstrafverfahren sind die Schritte der Verfolgungsbehörden nach Einleitung eines Ermittlungsverfahrens leicht berechenbar und mithin dem Verteidiger und somit auch dem Beschuldigten bekannt (so auch Burkhard, DStR 2002, 1794, 1796). Welcher Überraschungseffekt, z. B. mit einer Durchsuchung, durch die Versagung der Akteneinsicht dann noch erzielt werden soll, ist nicht ersichtlich. Noch unverständlicher erscheint die Verweigerung der Akteneinsicht, wenn Durchsuchungsbeschlüsse bezüglich Banken vorbereitet werden, da hier eine Manipulation durch den Beschuldigten nicht möglich erscheint.

2. Ausnahmen

Eine Verweigerung der Akteneinsicht ist nicht zulässig, wenn es sich um Vernehmungsniederschriften und Sachverständigengutachten i. S. d. § 147 Abs. 3 StPO handelt oder der Beschuldigte inhaftiert ist und in die zur Beurteilung der Haftgründe wesentlichen Unterlagen Einsicht nehmen möchte, vgl. § 147 Abs. 2 Satz 2 StPO. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR sollte sich hierbei jedoch nicht mit einer teilweisen Akteneinsicht zufriedengegeben werden. Der EGMR hält ein umfassendes Akteneinsichtsrecht für gegeben, da ansonsten eine Störung der Waffengleichheit vorläge (EGMR, Urteil vom 13. Februar 2001 – 24479/94, Rn. 44).

III. Rechtsschutzmöglichkeiten

Wird die Akteneinsicht in die von § 147 Abs. 3 StPO geschützten Unterlagen oder im Fall der Inhaftierung des Beschuldigten versagt, kann der Verteidiger die Entscheidung gemäß § 147 Abs. 5 Satz 2 StPO anfechten und einen Antrag auf gerichtliche Entscheidung nach Maßgabe des § 161a Abs. 3 Satz 2-4 StPO stellen. Gegen eine ablehnende Entscheidung kann er Beschwerde gemäß § 304 Abs. 1 und 4 Satz 2 Nr. 4 StPO einlegen.

Für alle darüber hinausgehenden Fälle verbleibt nach herrschender Ansicht nur die Möglichkeit der Gegenvorstellung oder Dienstaufsichtsbeschwerde (BVerfG, Beschluss vom 28. Dezember 1984 – 2 BvR 1541/84, Rn. 2; OLG Frankfurt, Beschluss vom 19. August 2005 – 3 VAs 36/05, Rn. 5, 6). Insbesondere der Rechtsbehelf des § 23 EGGVG sei grundsätzlich nicht zulässig, da es sich bei der Versagung der Akteneinsicht um eine Prozesshandlung handle, die nicht nach den §§ 23 ff EGGVG überprüfbar sei (BVerfG, Beschluss vom 28. Dezember 1984 – 2 BvR 1541/84, Rn. 2). Darüber hinaus regle der Wortlaut des § 147 Abs. 5 S. 2 StPO abschließend, in welchen Fällen eine Rechtsschutzmöglichkeit bestehen solle.

Dies ist meines Erachtens nicht überzeugend, wenn die Verweigerung der Akteneinsicht zu einer Beeinträchtigung der Verteidigung führt. Nach dem vom BVerfG anerkannten Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes gem. Art. 19 Abs. 4 GG muss der Verteidiger dann die Möglichkeit haben, gem. §§ 23 ff. EGGVG, § 147 Abs. 5 S. 2 StPO analog, Art. 19 Abs. 4 GG Rechtsschutz zu ersuchen. Zwar gewährt Art. 19 Abs. 4 GG keinen sofortigen Rechtsschutz, sondern nur innerhalb angemessener Zeit, jedoch dauern Steuerstrafverfahren häufig mehrere Jahre, in denen dem Verteidiger die Akteneinsicht verwehrt wird. Ohne Kenntnis der Akte ist eine effektive Verteidigung häufig jedoch nicht möglich, da Beweisanträge aufgrund von Verlust der Beweismittel ins Leere zu laufen drohen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 21. November 1991 – 1 VAs 31/91, Rn. 14). Darüber hinaus droht das Akteneinsichtsrecht vor Abschluss der Ermittlungen insgesamt ins Leere zu laufen, wenn keine Rechtsschutzmöglichkeit besteht. Das Regelungskonstitut des § 147 Abs. 2 StPO sieht die Akteneinsichtsgewährung vor dem Abschluss des Ermittlungsverfahrens jedoch als Regelfall vor. Hat der Verteidiger zu diesem Zeitpunkt keine Rechtsschutzmöglichkeit, droht der Regelfall zum Ausnahmefall zu werden, da die Staatsanwaltschaft willkürlich die Akteneinsicht verweigern könnte. Das kann vom Gesetzgeber nicht gewollt sein, sodass die Regelung des § 147 Abs. 2 Satz 2 StPO nicht abschließend ist. Einen über die genannten Anwendungsfälle hinausgehenden Rechtsschutz hat der Gesetzgeber in seiner Begründung zum Gesetzesentwurf auch ausdrücklich offen gelassen (vgl. BT-Drucks. 14/1484, 22).

IV. Fazit

Für eine effektive Verteidigung des Beschuldigten ist es notwendig, dass ein umfassendes Akteneinsichtsrecht in alle verfahrensbezogenen Unterlagen besteht. Die Akteneinsicht darf daher nur in Ausnahmefällen (teilweise) verweigert werden. Die hierfür erforderlichen Voraussetzungen liegen in der Praxis regelmäßig nicht vor, sodass die Verweigerung der Akteneinsicht unzulässig ist. Häufig wird eine Beeinträchtigung der Verteidigung vorliegen, wodurch gem. Art. 19 Abs. 4 GG ein Anspruch auf effektiven Rechtsschutz besteht, der entsprechend genutzt werden sollte.


Rechtstipp aus dem Rechtsgebiet

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