Die Qual des Nichtstuns – wann begeht man eine Straftat durch Unterlassen?

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Einleitung

Eine Straftat wird gewöhnlich durch eine aktive Handlung oder ein aktives Tun begangen. Der Dieb stiehlt etwas, indem er an sich nimmt. Und eine Körperverletzung wird zum Beispiel durch Schläge auf das Opfer begangen. Man kann eine Straftat aber auch durch Unterlassen begehen. 

Dies ist dann der Fall, wenn jemand eine Pflicht zum Handeln hatte und dieses Unterlassen einem aktiven Tun entspricht. Eine Pflicht zum Handeln entsteht nach § 13 StGB dann, wenn man rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt. So kann dies zum Beispiel bei Ärzten oder Rettungssanitätern der Fall sein. Diese haben die Pflicht, Unfallopfern bestmöglich zu helfen.

Es gibt im Strafgesetzbuch Straftatbestände, die reine Erfolgsdelikte sind und welche, bei denen mehr die Begehungsweise der Tat unter Strafe gestellt ist. Ob bei einer Misshandlung von Schutzbefohlenen nach § 225 Strafgesetzbuch (StGB) ein Begehen durch Unterlassen möglich ist, musste nun der Bundesgerichtshof (BGH) in seiner Entscheidung vom 04.08.2015 – 1 StR 624/14 – beurteilen.

Der Fall

Das Opfer lebte seit einiger Zeit mit seiner Mutter zusammen. Es benötigt krankheitsbedingt eine permanente medikamentöse, krankengymnastische und ärztliche Behandlung, die sich sehr aufwendig gestaltet. Die Mutter kümmerte sich bis zum Sommer 1999 stets und ausdauernd um die adäquate Behandlung des Opfers. 

Sie lernte einen Mitangeklagten kennen und zog mit ihren Kindern bei ihm ein. Daraufhin übernahm der Mitangeklagte die Fürsorge für das Opfer. Er wurde über die Krankheit und Pflegebedürftigkeit des Opfers informiert. 

Nachdem das minderjährige Opfer mit der Mutter und deren Lebensgefährten zusammengezogen war, wurde ihm kein für Inhalationen geeignetes Gerät mehr zur Verfügung gestellt. Neue Medikamente wurden nicht besorgt. Es wurde auch nicht mehr dem Arzt vorgestellt. Es wurde auch gezwungen, sich vegetarisch zu ernähren, obwohl es eine spezielle, andere Ernährung aus gesundheitlichen Gründen benötigt. 

Der gesundheitliche Zustand des Opfers verschlechterte sich dadurch über Jahre hinweg. Er verlor dadurch auch irreversibel einen Teil der Lungenfunktion.

Die Entscheidung

Das Landgericht verurteilte die beiden Angeklagten wegen Misshandlung von Schutzbefohlenen durch Unterlassen nach § 225; 13 StGB in einem schweren Fall.

Dem ist der BGH gefolgt. Die Angeklagten haben das Opfer durch Unterlassen der gebotenen medizinischen und therapeutischen Behandlung im Sinne von § 225 Abs. 1 StGB „gequält“. Quälen bedeutet das Verursachen länger andauernder oder sich wiederholender Schmerzen oder Leiden. 

Dieses Quälen ist auch durch ein Unterlassen nach § 13 StGB erfolgt. Quälen kann nach der Rechtsprechung auch durch Unterlassen begangen werden. insbesondere wer es unterlässt, für sein Kind leidensvermindernde ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, kann dieses durch Unterlassen quälen.

Die angeklagte Mutter hatte für das minderjährige Opfer auch die Fürsorgepflicht. Der mitangeklagte Lebensgefährte der Mutter hat selbst sich bereit erklärt, die Fürsorge für das Opfer zu übernehmen. Deshalb hatten die Mutter und ihr Lebensgefährte die Pflicht, Gesundheitsschäden von dem Opfer abzuwenden. Diese Pflicht haben sie rechtswidrig verletzt.

Das Unterlassen der Angeklagten entspricht im Sinne von § 13 Abs. 1 StGB auch der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein aktives Tun. Voraussetzung dafür ist, dass der Unrechtsgehalt des Unterlassens dem eines aktiven Tuns entspricht.

Bei § 225 Abs. 1 StGB handelt es sich in der Variante des „Quälens“ um ein reines Erfolgsdelikt in Form eines Verletzungsdelikts. Der Taterfolg besteht in der Verursachung von Schmerzen und Leiden des Tatopfers. Wenn diese Leiden dem Opfer durch Verweigerung der notwendigen ärztlichen Behandlung zugefügt werden, entspricht das einer Zufügung der Leiden durch aktives Tun. 

Die Mutter des Opfers ist nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch verpflichtet, für das minderjährige Opfer zu sorgen. Dabei hätte sie die notwendigen ärztlichen Behandlungen fortführen müssen. Sie hätte notfalls das Familiengericht anrufen müssen.

Der mitangeklagte Lebensgefährte hatte im konkreten Fall ebenfalls eine Fürsorgepflicht. Er hätte zur Not auch gegen den Willen der Mutter das Familiengericht oder das Jugendamt einschalten müssen oder selber sich um die ärztliche Behandlung kümmern müssen.

Deshalb sah der BGH beide Angeklagte als einer Misshandlung von Schutzbefohlenen durch Unterlassen gemäß § 225; 13 StGB für schuldig an.

Zusammenfassung und Ausblick

Sämtliche Straftatbestände des StGB können nach § 13 StGB auch durch ein Unterlassen statt durch ein aktives Tun begangen werden. Dabei muss der Unrechtsgehalt des Unterlassens dem eines aktiven Tuns entsprechen. Es gibt im StGB Delikte, bei denen der „Erfolg“ bestraft wird und Delikte bei denen die Begehungsweise bestraft wird. 

Bei reinen Erfolgsdelikten, wie zum Beispiel dem Totschlag nach § 212 StGB oder der Misshandlung von Schutzbefohlenen spielt diese Entsprechungsklausel nur eine untergeordnete Rolle. Bei Begehungsdelikten, wie zum Beispiel dem Meineid nach § 154 StGB, muss aber geprüft werden, ob das Begehen durch Unterlassen im konkreten Fall genauso viel Unrecht aufweist, wie wenn die Tat durch aktives Tun begangen worden wäre.

In der Praxis sind die meisten Delikte Erfolgsdelikte. Wenn die Tat durch ein Unterlassen begangen wurde, muss der Strafverteidiger prüfen, ob ein Begehungsdelikt oder ein Erfolgsdelikt vorliegt. Bei einem Begehungsdelikt, welches durch Unterlassen begangen wurde, muss weiterhin geprüft werden, ob dadurch dasselbe Unrecht verursacht wurde, wie wenn die Tat durch ein aktives Tun begangen wurde.

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