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Hausnotruf vor dem BGH – Anbieter muss für groben Fehler haften

  • 6 Minuten Lesezeit
anwalt.de-Redaktion

In der ambulanten Pflege und Unterstützung von älteren Menschen spielen Hausnotrufsysteme eine immer größere Rolle. Mit solchen Systemen sollen Pflegebedürftige oder alleinlebende Senioren die Möglichkeit erhalten, in ihren eigenen vier Wänden wohnen zu bleiben, indem sie sich im Notfall leicht bemerkbar machen können. Nun hat der Bundesgerichtshof (BGH) eine Grundsatzentscheidung zu den Pflichten und der Haftung von Anbietern eines Hausnotrufs getroffen. 

Das System des Hausnotrufs 

Beim Hausnotruf handelt es sich um ein elektronisches Meldesystem, das es möglich macht, im Bedarfsfall auf Knopfdruck Hilfe zu organisieren. Hierzu erhalten die Nutzer des Hausnotrufsystems entweder eine Halskette oder ein Armband mit einem Funksender. Wird dieser Funksender betätigt, stellt ein an die Telefondose und das Stromnetz angeschlossenes Notrufgerät mit Freisprechanlage eine Verbindung zur Notrufzentrale her. Ein Mitarbeiter der Notrufzentrale versucht nach dem Alarm, mit dem hilferufenden Menschen Kontakt über die Freisprechanalage aufzunehmen, und verständigt je nach Situation den Rettungsdienst, Notarzt, Angehörige oder die Polizei. 

Der Hausnotruf bietet Senioren und ihren Angehörigen also die Sicherheit, im Notfall schnell Hilfe rufen zu können, wenn der ältere Mensch z. B. zu Hause gestürzt ist und aus eigener Kraft nicht mehr aufstehen kann. Damit der Mitarbeiter in der Notrufzentrale die Situation einschätzen kann, sind dort die Adresse des Kunden, der Zugang zur Wohnung, sein Gesundheitszustand, Vorerkrankungen, verordnete Medikamente, notwendige Sofortmaßnahmen, individuell vereinbarte Hilfepläne sowie die Kontaktdaten von Angehörigen und Bezugspersonen hinterlegt. 

Rechtsgrundlage für den Hausnotruf

Rechtliche Basis für die Beziehung des älteren Menschen zum Betreiber des Hausnotrufsystems ist wie so oft ein Vertrag (Hausnotrufvertrag), in dem die gegenseitigen Rechte und Pflichten geregelt sind. Während der Anbieter des Hausnotrufs verpflichtet ist, diesen zur Verfügung zu stellen und sorgfältig zu betreiben, zahlt der Kunde ein bestimmtes Entgelt. Rechtlich wird der Hausnotrufvertrag bei den Dienstverträgen eingeordnet. Der Anbieter des Hausnotrufsystems schuldet deshalb zwar keinen bestimmten Erfolg etwaiger Rettungsmaßnahmen, er muss aber eine angemessene Hilfeleistung vermitteln. Eben diese Vermittlung angemessener Hilfeleistungen hat in dem zugrunde liegenden Fall der BGH-Entscheidung nicht geklappt.

Ein am Hausnotrufsystem teilnehmender 78-jähriger Mann hatte seinen Funksender betätigt. Der diensthabende Mitarbeiter in der Notrufzentrale konnte keinen Kontakt zu ihm aufnehmen und minutenlang nur ein Stöhnen des alten Mannes wahrnehmen. Als mehrere Versuche, den Mann telefonisch zu erreichen, ebenfalls scheiterten, beauftragte er schließlich den Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes, in der Wohnung des Mannes nach dem Rechten zu schauen. Dieser fand den älteren Herrn am Boden liegend in seiner Wohnung und hievte ihn gemeinsam mit einem Kollegen auf die Couch. Anschließend verließen die beiden Sicherheitsdienstmitarbeiter die Wohnung wieder – ohne weitere Hilfe oder gar einen Arzt verständigt zu haben. Erst zwei Tage später wurde der Mann in eine Klinik gebracht, als der versorgende Pflegedienst ihn in der Wohnung liegend auffand. Die Ärzte stellten fest, dass der Mann ein bis drei Tage vor seiner Einlieferung einen Schlaganfall mit schwerwiegenden Folgen (Halbseitenlähmung und Sprachstörung) erlitten hatte. 

Haftet der Anbieter des Hausnotrufsystems? 

Der Mann nahm schließlich den Anbieter des Hausnotrufsystems in Haftung und verklagte ihn auf Schadensersatz und ein angemessenes Schmerzensgeld von mindestens 40.000 Euro. Seiner Meinung nach wären die gravierenden Folgen seines Schlaganfalls vermieden worden, wenn der Mitarbeiter in der Notrufzentrale statt den Mitarbeitern des Sicherheitsdienstes einen Rettungswagen mit medizinisch qualifizierten Rettungskräften geschickt hätte. Sowohl vor dem Landgericht (LG) als auch vor dem Kammergericht (KG) Berlin hatte die Klage keinen Erfolg. Als der Mann stirbt, führen seine drei Töchter als Erbinnen den Rechtsstreit fort und legen Revision beim BGH ein – der ihnen Recht gibt.

Mitarbeiter der Notrufzentrale verkannte die Situation 

Der BGH stellte fest, dass der Mitarbeiter in der Notrufzentrale bei der Annahme des Notrufs den offensichtlich akuten medizinischen Notfall verkannt und damit gegen die ihm vertraglich obliegenden Schutz- und Organisationspflichten verstoßen hat. Aus dem Gesamtbild des konkreten Falls ging nach Ansicht der Richter des BGH eindeutig hervor, dass der Mann dringend medizinische Hilfe benötigt hat, denn er hatte den Notrufknopf betätigt, war durch das minutenlange Stöhnen offensichtlich nicht mehr in der Lage, sich zu artikulieren, ging mehrfach nicht ans Telefon und aus den vorliegenden hinterlegten Informationen ging eindeutig hervor, dass der Mann an schwerwiegenden, mit Folgerisiken verbundenen Vorerkrankungen litt. In dieser dramatischen Situation hätte der Mitarbeiter auf keinen Fall nur einen medizinisch nicht geschulten und lediglich im Bereich der Ersten Hilfe ausgebildeten Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes losschicken dürfen. 

Der BGH betont in seiner Entscheidung, dass der Betreiber des Hausnotrufsystems mit diesem Verhalten seines Mitarbeiters seiner Pflicht zur Vermittlung einer angemessenen Hilfeleistung in keinster Weise genügt hat. Stattdessen hat er durch die Nachlässigkeit seines Mitarbeiters gegen die ihm aus dem Hausnotrufvertrag obliegenden Kardinalspflichten gravierend verstoßen. Der dringend auf medizinische Hilfe angewiesene alte Mann lag dadurch zwei Tage gänzlich unversorgt allein in seiner Wohnung.  

Beweislastumkehr zugunsten des Rentners 

Verletzt eine Vertragspartei ihre vertraglichen Pflichten, hat die andere Partei nach einer Vorschrift aus dem allgemeinen Vertragsrecht Anspruch auf Ersatz des dadurch entstandenen Schadens. Hierzu muss sie nach § 280 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) aber nicht nur beweisen, dass die andere Partei eine ihrer vertraglichen Pflichten verletzt hat, sondern auch, dass durch ebendiese Pflichtverletzung der geltend gemachte Schaden in der geltend gemachten Höhe entstanden ist. Juristisch bezeichnet man diese Pflicht zur Beweiserbringung als Beweislast. In einigen Ausnahmefällen hat der Gesetzgeber oder der BGH die Pflicht zur Beweiserbringung aber geändert und der anderen Seite auferlegt, zu beweisen, dass es gerade nicht so war (Beweislastumkehr). Eine derartige Beweislastumkehr hat der BGH in seiner Entscheidung nun auch für die Nutzer des Hausnotrufsystems geschaffen, indem er die Grundätze aus dem Arzthaftungsrecht auf den Hausnotruf übertrug.  

Unterläuft Ärzten bei der Behandlung eines Patienten ein grober Behandlungsfehler, der geeignet ist, einen Schaden der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, können sich die Patienten bei der Geltendmachung von Ansprüchen auf Schadensersatz und Schmerzensgeld ebenfalls auf eine Beweislastumkehr berufen. Sie müssen deshalb nicht nachweisen, dass ihr Schaden durch den Behandlungsfehler entstanden ist, sondern es obliegt dem Arzt, nachzuweisen, dass der Gesundheitsschaden nicht durch den Behandlungsfehler entstanden ist. Diese Regeln der Beweislastumkehr hat der BGH mit seinem Urteil auf die grobe Verletzung der Schutz- und Organisationspflichten eines Hausnotrufvertrags übertragen, denn der Hausnotruf bezweckt ähnlich wie der Arztberuf in erster Linie den Schutz von Leben und Gesundheit der meist älteren und pflegebedürftigen Teilnehmer. Im Ergebnis konnte sich der Betreiber des Hausnotrufsystems deshalb der Pflicht zur Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld nicht mit der Begründung entziehen, dass ein Schlaganfall auch bei sofortiger medizinischer Versorgung Lähmungen und Sprachstörungen hervorrufen könne. 

Fazit: Das Hausnotrufsystem soll gerade verhindern, dass ältere Menschen in einem medizinischen Notfall tagelang unversorgt bleiben. Es zählt deshalb zu den Kardinalspflichten von Anbietern solcher Systeme, sicherzustellen, dass hilferufenden Teilnehmern angemessene medizinische Hilfe vermittelt wird. Verletzen sie diese Pflicht, sind sie zum Ersatz des Schadens und der Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes verpflichtet. Bei der Geltendmachung dieser Ansprüche können sich die Teilnehmer des Hausnotrufsystems auf eine vergleichbare Beweislastumkehr berufen wie Patienten in einem Arzthaftungsprozess.

(BGH, Urteil v. 11.05.2017, Az.: III ZR 92/16) 

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