Verkennung einer Notrufsituation: Fristlose Kündigung des Arbeitsvertrages unverhältnismäßig

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Der Fall:

Der nicht pädagogisch ausgebildete Arbeitnehmer war seit 1981 in dem von der Beklagten betriebenen Bildungszentrum mit angeschlossenem Internat beschäftigt. Dort war er mit der Beaufsichtigung und Betreuung der Internatsgäste betraut. Wegen seiner langen Betriebszugehörigkeit war er ordentlich unkündbar. Er hat stets unbeanstandet gearbeitet. Im Oktober 2009 hatte er zusammen mit einer weiblichen Kollegin Nachtdienst. In dieser Nacht kam es zu einem sexuellen Übergriff auf eine damals knapp 17-jährige Internatsbewohnerin durch einen betrunkenen Schüler einer benachbarten Schule. Der Schülerin gelang es, in ihr Zimmer zu flüchten und den sie verfolgenden jungen Mann mit Hilfe ihrer Zimmermitbewohnerinnen auszusperren.

Auf den ersten Notruf, dessen Inhalt im arbeitsgerichtlichen Verfahren unklar geblieben ist, erschien der Kläger nicht. Nach einem weiteren suchte er das Zimmer auf, empfahl letztendlich jedoch nur, sich schlafen zu legen, das Zimmer von innen zu verriegeln und am nächsten Morgen alles Weitere zu klären. Dann ließ er die drei Bewohnerinnen allein. Für sich klärte er noch die Identität des Schülers. Weiteres veranlasste er in dieser Nacht nicht. Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis fristlos.

Die Entscheidung: Sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses stellt keine angemessene Reaktion dar

Das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein (Urteil v. 16.06.2010, 3 Sa 144/10) entschied, dass die Kündigung unwirksam ist. Der Kündigungsschutzklage des Arbeitnehmers wurde stattgegeben.

Der Kläger habe zwar durch sein zögerliches Handeln verschiedene Vertragspflichten verletzt. Die sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses sei dennoch keine angemessene Reaktion", erläutert Rechtsanwalt Tobias Ziegler, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Düsseldorf, die Entscheidungsgründe.

Der Arbeitgeber hätte bei der Interessenabwägung das Lebensalter (55 Jahre) und auch die lange, unbeanstandete Betriebszugehörigkeit, durch die der Kläger ein hohes Maß von Vertrauen aufgebaut habe, berücksichtigen müssen.

Rechtsanwalt Tobias Ziegler, Düsseldorf, dazu weiter:

Es hätte auch berücksichtigt werden müssen, dass der Kläger die Schwere des Vorfalls nicht richtig erkannt hatte und den Sachverhalt unterschätzte. Das Landesarbeitsgericht kam zu dem Ergebnis, dass eine Abmahnung in diesem Fall als milderes Mittel ausreichend gewesen sei."

Hintergrundwissen zur verhaltensbedingten Kündigung:

Nicht jede Pflichtverletzung rechtfertigt eine ordentliche oder gar außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses. In der Regel muß der Arbeitgeber den Arbeitnehmer zuvor einschlägig - und nicht zuletzt auch formal korrekt - abmahnen. Arbeitgeber machen hierbei häufig (Form-)Fehler, die im Ergebnis dazu führen, dass eine gleichwohl erklärte Kündigung vom Arbeitnehmer erfolgreich vor dem Arbeitsgericht mit der Kündigungsschutzklage angegriffen werden kann.


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