Berufsunfähigkeitsversicherung: Der leidensbedingte Berufswechsel durch den Versicherten
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Eine der zentralen Fragen in der Berufsunfähigkeitsversicherung ist, welcher Beruf beziehungsweise welche Tätigkeit konkret im Falle einer Berufsunfähigkeit versichert ist. Häufig ist ein Versicherungsnehmer aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen gezwungen seinen bisherigen Beruf aufzugeben und eine weniger belastende Tätigkeit auszuüben. Im Fachjargon nennt sich dies „leidensbedingter Berufswechsel“ Beantragt der Versicherte Leistungen aus seiner Berufsunfähigkeitsversicherung, ist häufig unklar, auf welchen Beruf abzustellen ist und ab wann überhaupt ein leidesbedingter Berufswechsel vorliegt. Mit dem vorliegenden Artikel soll ein wenig Klarheit in die komplexe Materie des leidensbedingten Berufswechsels gebracht werden.
Ausgangslage: Der zuletzt ausgeübte Beruf
Verwirklicht sich das Risiko einer Berufsunfähigkeit, ist in einem Leistungsprüfungsverfahren der zuletzt ausgeübte Beruf maßgeblich. Es ist allein auf die vor Eintritt des Versicherungsfalls zuletzt konkret ausgeübte Tätigkeit abzustellen. Versichert ist also nicht ein Berufsbild, sondern vielmehr „der Beruf“ des Versicherten, also die individuelle konkrete Tätigkeit des Versicherungsnehmers. Maßgeblich für die Beurteilung ist hierfür der Zeitpunkt vor dem Beginn der ersten Beschwerden, die zur Berufsunfähigkeit führen; mit anderen Worten der Zeitpunkt, zu dem der Versicherungsnehmer noch „ganz gesund“ war. Wechselt der Versicherungsnehmer, ohne dass dies mit seiner Gesundheitsbeeinträchtigung zusammenhängt (sog. leidensunabhängiger Berufswechsel), so ist nach einer gewissen Dauer diese neue Tätigkeit als maßgeblicher Beruf zugrunde zu legen. Nun ist von diesem Normalfall abzuweichen, wenn der Versicherungsnehmer leidensbedingt den Beruf aufgibt und in eine ihm noch mögliche Tätigkeit wechselt (sog. leidensbedingter Berufswechsel).
Was bedeutet „leidensbedingter Berufswechsel“?
Ein leidensbedingter Berufswechsel liegt vor, wenn der Versicherte seine berufliche Tätigkeit aufgrund von Krankheit, Kräfteverfall oder gesundheitlich bedingter Kündigung aufgibt und in eine andere, weniger belastende Tätigkeit wechselt. Dieser Wechsel geschieht nicht freiwillig im klassischen Sinne, sondern ist eine notwendige Anpassung an die eingeschränkte Leistungsfähigkeit des Versicherten. Die Rechtsprechung hat klargestellt, dass in diesen Fällen der Maßstab für die Berufsunfähigkeit nicht der neue Beruf sein kann, sondern der Beruf, den der Versicherte in gesunden Tagen ausgeübt hat (siehe dazu weiterführend: BGH, Urteil vom 14.12.2016 – IV ZR 527/15). Der Grund dafür liegt darin, dass die Versicherungsbedingungen in der Regel auf die Tätigkeit abstellen, wie sie ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war.
Warum bleibt der frühere Beruf maßgeblich?
Bei einem ausschließlich leidensbedingten Berufswechsel vor Eintritt des Versicherungsfalles ist der vor dem Wechsel ausgeübte Beruf der Ausgangspunkt für die Beurteilung der Berufsunfähigkeit. Das folgt aus der Definition in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen (siehe dazu weiterführend: Auslegung von allgemeinen Versicherungsbedingungen). Der Versicherungsnehmer kann nur seine berufliche Leistungsfähigkeit in gesunden Tagen als Vergleichsmaßstab heranziehen. Ein Versicherungsnehmer zahlt während der gesamten Versicherungsdauer Beiträge, die auf dem Risiko seiner ursprünglichen Tätigkeit basieren. Würde man die neue, leidensbedingt eingeschränkte Tätigkeit als Maßstab nehmen, würde dies den Versicherungsschutz entwerten. Es würde dazu führen, dass ein fortlaufend absinkendes Leistungsniveau als neue Normalität anerkannt wird, was dem Sinn der Berufsunfähigkeitsversicherung widerspricht.
Fallstricke bei schrittweiser Reduktion der Leistungsfähigkeit
In vielen Fällen reduzieren Versicherte aufgrund eines langsam fortschreitenden Leidens ihre Arbeitsleistung schrittweise oder nehmen eine „Schonposition“ beim Arbeitgeber an. Dies kann zunächst wie eine freiwillige Entscheidung erscheinen, doch faktisch ist es eine Anpassung an die gesundheitlichen Einschränkungen. Würde man diese schrittweise Reduktion als neuen Maßstab nehmen, wäre es für Versicherte oft schwer, die 50 % Einschränkung der Arbeitsfähigkeit nachzuweisen, die in vielen Policen als Schwelle für Berufsunfähigkeit definiert ist. Daher bleibt es bei der Betrachtung der Tätigkeit, die der Versicherte in gesunden Tagen ausgeübt hat. Der Versicherungsfall soll nicht dadurch verhindert werden, dass der Versicherte schrittweise seine Leistungsfähigkeit reduziert hat.
Besteht eine zeitliche Grenze?
Nach einem leidensbedingten Berufswechsel, fragt sich der Versicherungsnehmer häufig, ob eine zeitliche Grenze besteht, nach der der aus gesundheitlichen Gründen gewählte neue Beruf als Vergleichsmaßstab gilt. Während die Faustregel besagt, dass nach drei Jahren der neue Beruf herangezogen werden kann, sehen die Versicherungsbedingungen keine feste zeitliche Begrenzung vor. Für den durchschnittlichen Versicherungsnehmer bleibt daher unklar, ab wann eine eingeschränkte Leistungsfähigkeit als dauerhaft betrachtet und zum neuen Normalzustand erklärt wird. Daher besteht keine feste zeitliche Grenze.
Differenzierte Betrachtung statt starrer (zeitlicher) Regeln
Ein sachgerechter Ansatz ist vielmehr die differenzierte Betrachtung des Einzelfalls. Hierbei spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Zum einen die zeitliche Entfernung des Berufswechsels: Je länger der Versicherte die neue Tätigkeit ausübt, desto wahrscheinlicher wird diese zum relevanten Maßstab. Hinzu kommt das Bewusstsein des Versicherungsnehmers: Wenn dem Versicherungsnehmer beim Berufswechsel bewusst war, dass er eigentlich berufsunfähig im ursprünglichen Beruf ist, spricht dies für die Beibehaltung des früheren Berufs als Maßstab. Ebenfalls ist der Einfluss auf die Lebensstellung zu beachten: Die frühere Tätigkeit bleibt relevant, wenn sie den beruflichen Status, die Qualifikation und die Lebensstellung des Versicherten nachhaltig prägt. Hat der Versicherte hingegen durch die neue Tätigkeit eine stabile, dauerhafte berufliche Situation geschaffen, sollte diese berücksichtigt werden. Zuletzt ist auch die berufliche Flexibilität als Kriterium heranzuziehen: Eine wechselnde Erwerbsbiografie kann die Bedeutung des früheren Berufs schwächen. In solchen Fällen kann es angemessen sein, auf den zuletzt ausgeübten Beruf abzustellen.
Besondere Fälle: Neue Erkrankungen oder altersbedingter Kräfteverfall
Wenn neue, von der ursprünglichen Erkrankung unabhängige Beschwerden auftreten oder altersbedingter Kräfteverfall zur Berufsunfähigkeit führt, wird der neue Beruf relevant. In diesen Fällen handelt es sich um ein neues Risiko, das nicht mit der ursprünglichen Tätigkeit zusammenhängt. Der Berufswechsel ist dann nicht mehr leidensbedingt, da die neue Ursache erst nach dem Wechsel aufgetreten ist.
Beweislast liegt beim Versicherungsnehmer
In einem möglichen Rechtsstreit muss der Versicherungsnehmer nachweisen, dass der Berufswechsel leidensbedingt war. Kann er diesen Nachweis erbringen, bleibt die frühere Tätigkeit maßgeblich. Gelingt der Nachweis nicht, muss der zuletzt ausgeübte Beruf berücksichtigt werden. Ein hilfreicher Tipp für den Versicherungsnehmer ist, bei der Beschreibung der Tätigkeit im Leistungsprüfungsverfahren möglichst umfassend und detailliert vorzugehen. Es empfiehlt sich, dabei gegebenenfalls Experten hinzuzuziehen, um Verzögerungen im Prozess zu verhindern.
Ein leidensbedingter Berufswechsel stellt für Versicherungsnehmer und Versicherer eine Herausforderung dar, da er nicht klar in das klassische Schema der Berufsunfähigkeit passt. Die Rechtsprechung schützt zwar Versicherte davor, durch einen leidensbedingten Berufswechsel benachteiligt zu werden, jedoch ist eine individuelle Betrachtung jedes Falls unerlässlich, um zu bestimmen, ob eine Leistungspflicht der BU-Versicherung besteht.
Für die Praxis ist damit festzustellen, dass es im Bereich der Berufsunfähigkeit sinnvoll ist, frühzeitig anwaltliche Expertise in Anspruch zu nehmen. Weitere Informationen und Rechtsprechung stehen für Sie unter „Versicherungsrecht“ und themenspezifisch unter „Berufsunfähigkeitsversicherung“ zusammengefasst.
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