Die Ermittlung des GdB im Schwerbehindertenverfahren bei Fibromyalgie
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Die Bemessung des Grades der Behinderung (GdB) im Schwerbehindertenrecht richtet sich generell nach den Auswirkungen von Funktionseinschränkungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft. Entscheidend ist nicht die Diagnose der Erkrankung. Dies gilt insbesondere auch bei Fibromyalgie.
Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Seine Höhe richtet sich nach dem Ausmaß der Funktionseinschränkungen, die die Erkrankung auslöst. Auf die Anzahl der verursachenden Erkrankungen oder deren Schwere kommt es nicht an.
Wie wird der GdB ermittelt?
Wer als Fibromyalgiepatient eine Schwerbehinderung feststellen lassen möchte, sollte sich mit den rechtlichen Bewertungsgrundsätzen vertraut machen. Dabei sind vor allem zwei Regelwerke zu beachten (http://www.gesetze-im-internet.de/versmedv/BJNR241200008.html):
- die Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) und
- die sog. Versorgungsmedizinischen Grundsätze (eine Anlage zu der Verordnung)
Die Verordnung selbst regelt u. a. die allgemeinen Grundsätze für die medizinische Bewertung von Schädigungsfolgen und die Feststellung des Grades für die Anerkennung einer Gesundheitsstörung nach dem Bundesversorgungsgesetz. Bei den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen (der Anlage zu der Verordnung) dagegen handelt es sich um eine Art Verzeichnis zur Bewertung bestimmter Funktionseinschränkungen, wobei die folgenden Funktionssysteme zusammenhängend betrachtet werden: Gehirn einschließlich Psyche; Augen; Ohren; Atmung; Herz- Kreislauf; Verdauung; Harnorgane; Geschlechtsapparat; Haut; Blut einschließlich blutbildendes Gewebe und Immunsystem; innere Sekretion und Stoffwechsel; Arme; Beine; Rumpf.
Die Grundsätze werden auf der Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellt und fortentwickelt. Sie bündeln das ärztliche Erfahrungswissen. Ihr Zweck ist die Sicherung der Gleichbehandlung aller behinderten Menschen. Sie sind deshalb im Einzelfall anzuwenden. Die Verwaltung ist an sie gebunden. Die Gerichte können sie beschränkt überprüfen. Nur in besonders begründeten Einzelfällen dürfen sie von ihnen abweichen.
- Bundessozialgericht - Urteil vom 17.04.2013 - B 9 SB 3/12 R https://sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/export.php?modul=esgb&id=161926&exportformat=HTM
- Bundessozialgericht - Urteil vom - 24.04.2008 B 9/9a SB 10/06 R https://sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/export.php?modul=esgb&id=80352&exportformat=HTM
- LSG Niedersachsen-Bremen - Urteil vom 03.05.2006 - L 9 SB 45/03 http://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/portal/page/bsndprod.psml?printview=true&doc.id=JURE070098330&st=null&showdoccase=1¶mfromHL=true
Wie ist der GdB bei Fibromyalgie zu ermitteln?
Bestimmte Gesundheitsstörungen sind in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen gar nicht aufgeführt oder zumindest nicht mit einem bestimmten Behinderungsgrad versehen. Aber auch dann gelten die Grundsätze für die Bemessung des GdB. In solchen Fällen ist der GdB in Analogie zu vergleichbaren Gesundheitsstörungen zu beurteilen, die in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen erfasst sind.
- LSG Nordrhein-Westfalen - Urteil vom 28.11.2000 - Az. L 6 SB 46/98 https://sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/export.php?modul=esgb&id=2415&exportformat=HTM
Für das Fibromyalgiesyndrom gilt folgendes: Es wird in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen zwar erwähnt. Es findet sich im Abschnitt 18 unter der Überschrift „Haltungs- und Bewegungsorgane, rheumatische Krankheiten" in einer Reihe mit entzündlich-rheumatischen Erkrankungen, Muskelkrankheiten, Wirbelsäulenschäden u. a. Ihm ist an dieser Stelle jedoch kein je nach Schwere abgestufter GdB zugeordnet. Die reine Diagnose einer Fibromyalgie sagt über den Grad der Behinderung somit erst einmal nichts aus. Statt dessen findet sich unter Ziff. 18.4 der Hinweis „Die Fibromyalgie, das Chronische Fatigue Syndrom (CFS), die Multiple Chemical Sensitivity (MCS) und ähnliche Syndrome sind jeweils im Einzelfall entsprechend der funktionellen Auswirkungen analog zu beurteilen."
Das LSG Nordrhein-Westfalen hat in diesem Zusammenhang mehrfach bestätigt, dass für die Bewertung des GdB das Erkrankungsbild einer Fibromyalgie mit ihren Begleiterscheinungen maßgeblich ist. Dabei kommt es nicht auf die Diagnose an; entscheidend ist das tatsächliche Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigung unter Berücksichtigung der jeweiligen Organbeteiligung und der Auswirkungen auf den Allgemeinzustand. Als Vergleichsmaßstab bei einem Fibromyalgiesyndrom wie auch bei anderen Krankheitsbildern mit vegetativen Symptomen, gestörter Schmerzverarbeitung, Leistungseinbußen und Körperfunktionsstörungen, denen kein oder kein primär organischer Befund zugrunde liegt (z. B. chronisches Müdigkeitssyndrom, Multiple chemical sensivity), kommen - so das LSG - am ehesten die im Abschnitt „Neurologische Persönlichkeitsstörungen" aufgeführten psychovegetativen oder psychischen Störungen mit Einschränkungen der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und evtl. sozialen Anpassungsschwierigkeiten in Betracht.
- LSG Nordrhein-Westfalen - Urteil vom 09.02.2005 - L 10 SB 167/01 https://sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/export.php?modul=esgb&id=51232&exportformat=HTM
- LSG Nordrhein-Westfalen - Urteil vom 28.11.2000 - L 6 SB 46/98 https://sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/export.php?modul=esgb&id=2415&exportformat=HTM
- LSG Nordrhein-Westfalen - Urteil vom 03.06.2009 - L 6 SB 134/08 https://sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/export.php?modul=esgb&id=89572&exportformat=HTM
In gleicher Weise hat das Bayerische Landessozialgericht, das die Fibromyalgie unter Berufung auf den Pschyrembel (Klinisches Wörterbuch, 260. Aufl. 2004, Stichwort Fibromyalgie) als eine Form der extraartikulären rheumatischen Erkrankungen mit chronisch generalisierten Schmerzen im Bereich der Muskulatur, des Bindegewebes und der Knochen an typischen Schmerzpunkten qualifiziert, sich an der Bewertung von Neurosen, Persönlichkeitsstörungen und Folgen psychischer Traumen orientiert. In dem konkret entschiedenen Fall wurde die von einer Sachverständigen vorgenommene Beurteilung der Fibromyalgie entsprechend den Auswirkungen einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung und der Vorschlag eines Einzel-GdB von 30 v. H. bestätigt. Der Gesamt-GdB wurde in diesem Fall in der Gesamtbetrachtung mit weiteren Funktionseinschränkungen mit 50 v. H. festgesetzt, sodass die Voraussetzungen einer Schwerbehinderung erfüllt waren.
- Bayerisches Landessozialgericht - 28.02.2011 - L 16 SB 152/09 https://sozialgerichtsbarkeit.de/sgb/esgb/export.php?modul=esgb&id=142912&exportformat=HTM
Im Einzelfall kommt es also immer darauf an, die jeweiligen Begleiterscheinungen der Fibromyalgie herauszuarbeiten, die von Fall zu Fall unterschiedlich sein können. Nicht die Diagnose zählt, sondern die konkrete Auswirkung der Erkrankung auf die einzelnen Funktionssysteme, Körperorgane und den Allgemeinzustand.
Dieser Beitrag dient zur allgemeinen Information und entspricht dem Kenntnisstand zum Zeitpunkt der Veröffentlichung. Eine individuelle Beratung wird dadurch nicht ersetzt. Jeder einzelne Fall erfordert fachbezogenen Rat unter Berücksichtigung seiner konkreten Umstände. Ohne detaillierte Beratung kann keine Haftung für die Richtigkeit übernommen werden. Vervielfältigung und Verbreitung nur mit schriftlicher Genehmigung des Verfassers.
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