Indizien und Beweise im deutschen Strafprozess – BGH und Strafverteidigerpraxis

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Im deutschen Strafverfahren geht es zuvörderst um die Ermittlung von Wahrheit. Die Verhängung einer Strafe als staatliche Reaktion von so ermitteltem und festgestelltem Sachverhalt steht dem an zweiter Stelle hinten an.

Weil die Wahrheit über ein Geschehen herauszufinden aber keine einfache Angelegenheit ist, hat der Gesetzgeber strenge und verbindliche Regeln aufgestellt, an welche sich alle ein Schuld- und Rechtsfolge aussprechendes Gericht verbindlich zu halten hat.

Jedes deutsche Strafgericht ist daher verpflichtet von Amtswegen selbständig die seine Entscheidungen tragenden Tatsachengrundlage umfassend zu untersuchen und aufzuklären. An dieser Sollbruchstelle unterscheidet sich die Qualität von guten und von weniger guten Gerichten bzw. deren Besetzung mit Richterinnen und Richtern.

Falsche Tatsachenfeststellungen und verfehlte Beweiswürdigung führen zu Fehlurteilen, welche mit den Rechtsmitteln (Sprung-)Revision und Berufung durch Verteidigung oder Staatsanwaltschaft aufgehoben werden müssen.

Im Kern geht es in der strafgerichtlichen Beweisaufnahme also um die Würdigung von Sachbeweisen und Indizienbeweisen unter Anwendung unserer Denkgesetze.

Nahezu jeder Beweis vor Gericht ist ein mittelbarer Beweis. Ein Indizienbeweis ist also eine Hilfstatsache, weil das Indiz die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens der Haupttatsache beeinflusst. Haupttatsache (somit voller Beweis oder unmittelbarer Beweis) ist dabei immer das gesetzliche Tatbestandsmerkmal, etwa die Gewalt bei „Vergewaltigung“ oder allgemein die Täterschaft des Angeklagten („wer… tötet“).

Der Volksmund verkündet noch bis vor die Gerichtsstuben frohlockend und (meist) optimistisch „Anklage nur mit Indiz – keine Verurteilung!“ Das aber entspricht (leider) nicht der Praxis obergerichtlicher Rechtsprechung und verschweigt die erhöhte Verurteilungswahrscheinlichkeit, wenn mehrere belastende Indizien vorliegen und für den Ablauf eines bestimmten Geschehens logisch zu einander ins Verhältnis gesetzt werden können.

Es kann also die Indizienkette sein, welche ein Gericht es verkünden lassen „So viele Zufälle kann es nicht geben. Er muss der Täter gewesen sein.“ Der BGH hält daran fest, sofern das Urteil auch sonst Bestand hat.

Der BGH beschreibt in seiner Anastasia-Entscheidung (BGHZ 53, 245, 2660) den Indizienprozess so:

„Hauptstück des Indizienbeweises ist also nicht die eigentliche Indizientatsache, sondern der daran anknüpfende weitere Denkprozess. Kraft dessen auf das Gegebensein der rechtserheblichen weiteren Tatsache geschlossen wird.“

Je länger man an deutschen Gerichten verteidigt, umso deutlicher wird, dass der Indizienprozess sogar die Regel ist. Der direkte Beweis liegt nur dann vor, wenn sich dem Strafrichter oder dem Vorsitzenden des Kollegialgerichts das Vorhandensein eines einzelnen gesetzlichen Tatbestandsmerkmals ohne jeden weiteren Beweis sinnlich vermittelt.

Zum Beispiel:

Dass es sich beim Opfer einer Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB um das gesetzliche Tatbestandsmerkmal Mensch handelt („eine andere Person“), vermittelt sich dem Gericht durch Augenschein, wenn das Opfer als Zeuge aussagt. Dass es sich bei dem zur Verletzungshandlung benutzten Gegenstand um eine Messer und damit um einen gefährlichen Gegenstand iSd § 224 I Nr. 2 StGB handelt, vermittelt sich dem Gericht ebenso durch Augenschein, indem es das Messer anschaut. Auch schon das Geständnis des Angeklagten, das Tatopfer mit einem Messer verletzt zu haben, ist Indizienbeweis, weil dazu noch die Bewertung der Glaubhaftigkeit des Geständnisses hinzukommen muss.

Ein Indizienprozess liegt vor, wenn die Indiztatsache die freie richterliche Beweiswürdigung (§ 261 StPO) in Bezug auf eine Haupttatsache beeinflussen kann.

Für mich als Verteidiger ist das Kernstück des Indizienbeweises und dessen Schwachstellte also nicht die Indiztatsache, sondern der daran angeknüpfte Denkprozess, aus dem sich die Belastung oder Entlastung ergibt, besser formuliert durch Staatsanwaltschaft für das Gericht ergeben soll. Der Denkprozess wiederum folgt den Regeln der Wahrscheinlichkeitsberechnung.

Denn es liegt zwischen Indiz- und Haupttatsache immer eine (gerichtliche) Bewertung, welche sich mit Ausschlusswahrscheinlichkeit befasst. Der Wahrscheinlichkeitsschluss muss dabei nicht sicher, sondern nur möglich sein.

Ein Indiz ist belastend, wenn es die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen der Haupttatsache erhöht, eine Indiz ist entlastend, wenn es die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen der Haupttatsache verringert. Es ist neutral, wenn es die Wahrscheinlichkeit nicht verändert.

Als einfaches Beispiel dazu:

Eine 90-jährige betagte Dame mit erheblicher Sehschwäche will einen Verkehrsunfall aus ihrem Fenster in der im 6. Stockwerk liegenden Wohnung gesehen haben.

Ein Indiz für das Vorliegen des Verkehrsunfalls liegt dem Gericht durch die Zeugenaussage der Dame nun vor, jedoch ist die Schlusswahrscheinlichkeit, dass von diesem Indiz auf die Tatsache Unfall geschlossen werden kann, gleich null. Denn die schwache Sehkraft und das fortgeschrittene Alter der Zeugin ist entlastend, da die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen eines Verkehrsunfalls verringert wurde.

Sofern es keine anderen Indizien gäbe, würde kein Verkehrsunfall vorliegen, könnte ein Strafgericht auf Verkehrsunfallflucht nicht rückschließen. Das Gericht müsste bei dieser Sachlage vom Vorwurf freisprechen. Darauf hinzuwirken und entlastenden Charakter eines Indizes in Richtung Haupttatsache zu entwickeln und geltend zu machen, ist vornehmliche Aufgabe einer an Freispruch-orientierten Verteidigung. 



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