Keine Anordnung der Rückführung eines durch einen Elternteil entführten Kindes in die Ukraine

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Üblicherweise wird in sog. Kindesentführungsfällen, in denen Kinder aus dem Ausland nach Deutschland durch einen Elternteil entführt und zurückgehalten werden, gerichtlich die umgehende Rückgabe des Kindes an den im Ausland zurückgebliebenen Elternteil angeordnet. Dies jedenfalls dann, wenn beide Länder Mitgliedstaaten des HKÜ, also des Haager Kindesentführungsübereinkommens von 1980, sind. Eine Kindesentführung wird dabei bereits dann angenommen, wenn ein nicht oder nicht allein sorgeberechtigter Elternteil das Kind ohne Zustimmung des anderen Sorgeberechtigten ins Ausland verbringt oder zum Beispiel nach einem erlaubten Urlaub oder Besuchsaufenthalt nicht wieder zurückbringt. Dies ist nach deutschem Recht sogar strafbar gemäß § 235 StGB. 


Nur in sehr wenigen Fällen und unter sehr schwerwiegenden Umständen wird ausnahmsweise die Rückgabe des Kindes abgelehnt mit der Konsequenz, dass dieses beim entführenden Elternteil verbleibt. Übliche im Rahmen des Art. 13 Abs. 1 b) HKÜ geltend gemachte Vorbringen in solchen auch von uns vertretenen Verfahren, z.B., dass die Trennung vom entführenden Elternteil – zumeist die Hauptbezugsperson – dem Kind erheblichen Schaden zufügt, lassen de Gerichte in der Regel nicht gelten. Vielmehr wäre dann dem entführenden Elternteil zuzumuten, mit dem Kind zusammen zurückzukehren und ggf. dort vor Ort das alleinige Sorgerecht zu erkämpfen. 


Als Ausnahme im Sinne von Art. 13 ab. 1 b) HKÜ anerkannt ist jedoch das Bringen des Kindes in eine unzumutbare Lage dadurch, dass die Rückgabe in ein von kriegerischen Auseinandersetzungen erschüttertes Land/Gebiet erfolgen müsste.


Über eine solche Situation hatte das Oberlandesgericht Stuttgart zu entscheiden. Ein Mädchen, welches erst 2021 in der Ukraine geboren und mit der Mutter ohne Zustimmung des Vaters zu Beginn des Ukrainekonflikts nach Deutschland floh, sollte auf Antrag des Vaters in die Ukraine, welche nach Feststellungen des Gerichts noch immer nationweit von Kriegshandlungen erschüttert ist, zurückgeführt werden. Die Eltern lebten bis zur Ausreise der Mutter mit Kriegsbeginn zusammen in einer Wohnung in der Ukraine. Beide haben das gemeinsame Sorgerecht für die Tochter. 


Der Vater begehrte die Rückgabe des Kindes zu sich in die Ukraine und beantragte dies entsprechend beim zuständigen Familiengericht. 


Sowohl das Familiengericht Stuttgart als auch das in der Beschwerdeinstanz angerufene Oberlandesgericht Stuttgart lehnte ausnahmsweise die Rückgabe ab, obwohl eine Kindesentführung durch die Kindesmutter klar bestätigt wurde. 


Das Gericht stellte nämlich dennoch ausnahmsweise fest, dass eine Rückführung der kleinen Tochter in die Ukraine mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden wäre, Art. 13 Abs. 1 b) HKÜ. 


Damit folgt das OLG Stuttgart auch den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strasbourg, welcher bereits vor Ausbruch des Krieges im Frühjahr 2022, näher durch Urteil des EGMR vom 15.06.2021 - 17665/17 - in der Sache Y.S. & O.S. gegen Russland festgestellt hatte, dass auch der vor 2022 in der Ukraine bereits langjährig schwelende Konflikt im Rückgabeverfahren betreffend das Kind im Rahmen des Art. 13 Abs. 1 b) HKÜ näher geprüft werden muss. Das Gericht, welches über die Herausgabe des Kindes zu entscheiden hat, muss sich näher damit auseinandersetzen, ob dieses dadurch in eine ernste Gefahr gebracht würde. 


Bemerkenswert ist an der Entscheidung des OLG Stuttgart zudem, dass der Kindesvater hilfsweise sogar beantragt hatte, das Kind in die Republik Moldau zu verbringen, wo er für Mutter und Kind eine Wohnung angemietet hatte. Das Gericht stellte aus hiesiger Sicht zu Recht fest, dass sich ein Anspruch auf Anordnung der „Rückgabe“ eines Kindes an einen Ort, an dem es sich vor der Entführung nicht aufgehalten hatte, nach dem HKÜ nicht ergebe. Die Begründung, dass in Moldau mangels internationaler Zuständigkeit gar keine Sorgerechtsverfahren durchgeführt werden könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Zuständigkeit ergibt sich erst durch den sog. gewöhnlichen Aufenthalt, welcher vor der Entführung vorgelegen haben muss. 


Eine prinzipiell insgesamt nachvollziehbare Entscheidung des OLG Stuttgart, wobei aus anderen Gerichtsbezirken Verfahren bekannt sind, bei welchen für einen entsprechenden Rückführungsantrag aufgrund der obigen Argumente nicht einmal Verfahrenskostenhilfe bewilligt wird, was durchaus kritisch zu betrachten ist, oder aber vergleichsweise eine Einigung der Eltern dergestalt geschlossen, dass man sich auf eine Rückkehr des Kindes in die Ukraine nach Ende des Krieges verständigt wurde. 


OLG Stuttgart, Beschluss vom 13.10.2022 - 17 UF 186/22


Nicole Rinau

Rechtsanwältin

Fachanwältin für Familienrecht

Fachanwältin für Sozialrecht



Foto(s): @buemlein

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